Schrei, wenn du kannst
Wir treffen uns an einem klirrend kalten Wintertag in Berlin: Neneh Cherry ist schwer erkältet, sie trinkt Cappuccino mit Sojamilch und wirft einen Hustenbonbon nach dem anderen ein; was sie allerdings nicht daran hindert, von mir eine filterlose Zigarette zu schnorren. Tolle Frau! An ihrem Ringfinger trägt sie einen äußerst schicken, ornamental verzierten Totenkopfring. Zwischendurch klingelt zweimal das Telefon, es ist eine von ihren Töchtern, der sie auf Schwedisch mütterliche Ratschläge erteilt. Erst mal aber stehen wir bei minus zehn Grad vor der Tür und rauchen.
Diese Platte, sagt Neneh Cherry schließlich, sei für sie wie eine Wiedergeburt. Und für jeden, der sie hört, ist es ein großes Glück, dass Neneh Cherry wieder unter uns weilt, so intim und zugleich schroff, so aufregend selbstwidersprüchlich und schön sind ihre zehn neuen Songs. „Blank Project“ heißt das Soloalbum. Es ist das erste, seit sie sich vor achtzehn Jahren aus der Pop-Öffentlichkeit verabschiedete. Zuvor hatte Neneh Cherry eine Weile lang zu den tollsten und schöpferischsten Sängerinnen in Großbritannien gehört. Sie kam aus dem Postpunk – Ende der Siebziger hatte sie noch als Teen mit den Slits und dann in der eigenen Band Rip Rig & Panic gespielt. Doch interessierte sie sich früh schon für HipHop-Beats und Rap-Gesang. Ihr Album „Raw Like Sushi“ aus dem Jahr 1989 war die Blaupause für alles, was man später TripHop und Grime nennen sollte, auch an der prägenden ersten Platte von Massive Attack war sie beteiligt.
In den 90er-Jahren nahm Cherry dann zwar noch zwei Alben auf, „Homebrew“(1992) und „Man“(1996) mit dem Blockbuster-Duett „7 Seconds“ mit Youssou N’Dour. Doch sei ihr, sagte sie damals, das Familienleben wichtiger geworden als die Karriere. Mit ihrem Mann, dem Produzenten Cameron McVey, und den beiden gemeinsamen Töchtern zog sie sich aus London in ihr Geburtsland Schweden zurück, später wohnten sie auch in New York und in einem spanischen Dorf. Erst 2006 konnte man wieder neue Songs von Neneh Cherry hören, mit ihrem Gatten und ihrer Tochter Tyson nahm sie unter dem Namen cir-Kus zwei allerdings nur mäßig interessante angejazzte TripHop-Platten auf.
Aber dann!
Dann kam sie 2011 plötzlich als Sängerin von The Thing zurück auf die Bühne, einem norwegischen Free-Jazz-Trio um den Baritonsaxofonisten Mats Gustafsson, das sich nach einem Stück von Neneh Cherrys Stiefvater, dem Trompeter Don Cherry, benannt hat; eine wunderbar brutale Haudrauf-und-Schluss-Combo, die ihre Platten seit einem Jahrzehnt auf dem Osloer Elektronikund-Jazz-Krach-Label Smalltown Supersound veröffentlicht. Im Zusammenspiel mit Cherry aber wirkten sie plötzlich fast sanft und melodisch. Gemeinsam nahmen sie unter dem Titel „The Cherry Thing“ eine Platte mit Coverversionen auf, von Ornette Coleman über die Stooges und Madvillain bis zu „Dream Baby Dream“ von Suicide, eine großartige Interpretation, nicht zuletzt im Vergleich zu dem schmierigen Cover auf dem neuen Bruce-Springsteen-Album.
Auch „Blank Project“ ist jetzt auf Smalltown Supersound erschienen; auch dieses Album klingt beim ersten Hören experimentell und schroff.
Doch ist es diesmal keine Jazz-Band, die Cherry begleitet, sondern ein Duo aus Schlagzeuger und Synthesizer-Bediener: Ben und Tom Page sind zwei junge Brüder aus South London, die sich – nach einem Sun-Ra-Stück -Rocketnumbernine nennen und im vergangenen Sommer ebenfalls bei Smalltown Supersound ihr Debütalbum herausgebracht haben. Zu den Gesängen und Sprechgesängen steuern sie manchmal nur ein hohles Pochen bei, manchmal begraben sie die Stimme aber auch unter ganzen Lawinen aus Krach; das macht die intimen Selbstbekenntnisse von Cherry – es geht um den Tod ihrer Mutter, ums Älterwerden, um Angst, Enttäuschungen, Beziehungskrisen – umso verletzlicher, tapferer, ergreifender.
Neneh Cherry ist aufrichtig erleichtert, dass die Platte den paar Leuten, die sie schon gehört haben, zu gefallen scheint – „weil sie so komplett anders klingt als das, was wir ursprünglich geplant hatten. Eigentlich sollte alles viel durchproduzierter sein, nicht so roh und rau. Das hat sich erst ergeben, als die Musik zu leben begann.“
Ursprünglich hatte sie wiederum mit ihrem Gatten – mit dem sie schon 1989 „Raw Like Sushi“ einspielte – an den neuen Songs zu arbeiten begonnen; auch gab es ein paar Aufnahmesessions mit Child of Lov, einem jungen, vielversprechenden R-&-B-Sänger, der jedoch im Dezember 2013 mit gerade 26 Jahren verstarb. Entscheidend war aber die Begegnung mit Kieran Hebden alias Four Tet, einem Londoner Produzenten, der elektronische Beats, Sitarklänge und Tablarhythmen und manchmal – in der Band Fridge – auch elektrische Gitarrensounds zu einer Art Minimal-Techno-Fusion-Jazz-Rock verbindet.
„Cameron und ich waren schon immer Fans von Four Tet, und als ich in Oslo an ,The Cherry Thing‘ arbeitete, da traf ich ihn gemeinsam mit Joakim Haugland, der das Smalltown-Supersound-Label betreibt. Wir hatten sofort einen Draht zueinander, er machte den Remix für unser Cover von ,Dream Baby Dream‘; und als ich ihm von meinem Soloalbum erzählte, schickte er mir gleich mehrere Backing Tracks.“ Vor allem aber brachte er sie mit seinen jungen Schützlingen von Rocketnumbernine zusammen, „die klangen für mich wie eine elektronische Version von The Thing“, sagt Cherry. „Als Erstes haben wir eine Liveshow gespielt, vier Songs auf einer von Gilles Peterson organisierten Gala. Eigentlich wollte ich mit The Thing auftreten, aber die waren anderweitig verpflichtet, darum habe ich meine Gesangsaufnahmen an Rocketnumbernine geschickt -und die haben die Songs komplett vom Kopf auf die Füße gestellt, etwas völlig Anderes daraus gemacht.“
Das ist interessant, weil auch das ganze Album ja nun davon lebt, dass Gesang und Begleitung gegeneinander zu arbeiten scheinen; man spürt immer einen Bruch in der Musik, eine Kluft, die nicht geschlossen wird. Es klingt weniger wie Neneh Cherry mit, sondern wie Neneh Cherry gegen Rocketnumbernine. „Ja“, sagt sie, „das stimmt genau, diese Art von Dynamik hat mich schon immer begeistert. Bei The Thing habe ich gegen diesen rohen Free-Jazz-Lärm angesungen. Und schon früher, in den Achtzigern, haben wir ja versucht, Dinge zusammenzubringen, die erst einmal nicht zusammenzupassen scheinen. Zum Beispiel Streicher und Beats: Sounds, die ganz klassisch und weich klingen, und solche, die so hart sind wie Beton.“
Was sie an Rocketnumbernine sofort faszinierte, sei deren musikalische Kompromisslosigkeit gewesen. Sie hätten sich niemals dem Gesang untergeordnet, sondern eher einen Raum dafür geschaffen, dass die Texte zur Geltung kommen. Nach der Liveshow entschloss sie sich daher, sämtliche Songs für das Album mit ihnen neu aufzunehmen. „Und als wir damit fertig waren, kam Kieran wieder hinzu. Ich war sehr froh, als er sagte, dass er die Produktion übernimmt.“ Anders als man hätte erwarten können, wollte Hebden aber kein elektronisches Album daraus machen:“Er hatte“, sagt Cherry, „eher die Idee, es wie eine Joni-Mitchell-Platte aufzunehmen, ganz klassisch, live und in einem Take.“
Die Aufnahmen fanden dann in einem Studio in Woodstock statt – nicht aus spirituellen Gründen, wie Cherry beteuert, sondern weil Hebdens Familie dort lebt und er so viel Zeit wie möglich mit ihr verbringt, wenn er nicht in London zum Arbeiten ist.
Das Studio war in einer alten Kirche eingerichtet, alle spielten gleichzeitig im gleichen Raum, „Kieran hatte alles mit Teppichen ausgelegt, um den Schall zu dämpfen und zu kontrollieren, und für mich eine Art Beduinenzelt aufgebaut, aus dem ich zu den anderen Musikern schaute.“ Die Songs wurden jeweils in einem Take gespielt und dann drei oder vier Mal wiederholt; nicht selten, sagt Cherry, habe sich dann aber gezeigt, dass der erste Versuch die meiste Magie besaß.
Jedenfalls ist auf diese Weise ein überaus charismatischer Gesamtsound entstanden. Das Schlagzeug und die Synthesizer klingen leicht verzerrt und klöternd wie bei einer Garagenrockband, während Cherrys Stimme sich erstaunlich differenziert und klar anhört, bis in die Nuancen des Hauchens und Flüsterns hinein – da ist er wieder, dieser nicht zu kittende Riss, der die Musik durchzieht, und dennoch hat man in jedem Moment das Gefühl, dass sie in ein und demselben Raum entstanden ist, spontan und atmend und aufeinander bezogen. Den einzigen Overdub findet man in „Out Of The Black“; darin duettiert Cherry mit der schwedischen Elektropopsängerin Robyn, die ihren Part nachträglich in einem Studio in Stockholm einsang – auch nicht gerade eine naheliegende Kombination, aber „odd couples funktionieren eben immer am besten“, sagt Cherry.
Und so ungewöhnlich und individuell der Sound auf der Platte auch ist: Wenn man „Blank Project“ hört, dann hört man auch die bleibenden Konstanten in ihrem Schaffen heraus. Wie schon mit The Thing singt sie auch hier gegen eine rohe, zornige Musik an und verleiht ihr eine paradoxe Wärme und Weichheit. So war es auch schon bei Rip Rig & Panic – und auf „Raw Like Sushi“, wo sie die harten HipHop-Beats mit euphorisch-optimistischem Gesang bekränzte. Stimmt mein Eindruck, dass sie sich stets in zornig-erregten musikalischen Feldern bewegt, ohne selber eine zornige Person zu sein?
„Ich bin vielleicht keine zornige Person, aber ich weiß, wie sich Wut anfühlt und wie wichtig sie ist, um am Leben zu bleiben. Darum hat es mich schon immer zu starken musikalischen Mitteln hingezogen, zu kräftigen Beats und zu schroffen Sounds, weil ich den Druck und die Dringlichkeit mag, die daraus erwachsen; ich will, dass Musik mich aus der Behaglichkeit reißt“, sagt sie. „Aber ich hatte nie das Bedürfnis, zornig zu sein um des Zorns willen. So wie ich im richtigen Leben auch mal explodiere, aber noch nie das Gefühl hatte, damit irgendetwas zu lösen. Diese Balance zwischen Harmonie und Zorn, Wut und Versöhnung muss man auch in der Musik finden.“
Kann man denn sagen, dass sich in dieser Haltung auch die Tradition ihres Stiefvaters (den sie im Gespräch selber durchweg ihren Vater nennt) und seiner musikalischen Freunde wiederfindet? Auch Don Cherry hat ja die eigentlich sehr unversöhnte Sprache des Free Jazz genutzt, um die Sehnsucht nach Frieden und Harmonie auszudrücken. „Ja, natürlich stehe ich in dieser Tradition – auch wenn ich wirklich lange gebraucht habe, um das zu begreifen. Denn ich hatte mir den Free Jazz, die Musik meines Vaters, ja nicht erobert oder aktiv angeeignet, er war einfach immer schon da. Und andererseits hatte ich so viel Respekt vor der Hingabe und Leidenschaft, mit der Don sich seine Kunst erarbeitet hatte, dass ich dachte: So wie er wirst du ohnehin nie spielen können, also lass es mal lieber mit dem Jazz. Ich habe erst spät begriffen, dass es dabei gar nicht so sehr um das Lernen, Studieren, ums Wissen geht, sondern vor allem um den Spirit und um den Ausdruck.“
Eigentlich habe sie das erst verstanden, als Don Cherry 1995 starb: wie sehr sie selber schon immer „Jazz gewesen sei“ und wie viel sie ihm und seiner Musik verdanke. „Nach seinem Tod fiel ich in eine lange Krise, ich fühlte mich wie verstummt, ich konnte keine Musik mehr machen.“ Das habe sich wesentlich erst wieder geändert, als sie auf The Thing traf und deren besondere Weise, sich die Free-Jazz-Tradition anzueignen und sie fortzuführen. „Da habe ich mich wieder geöffnet, ich erinnerte mich plötzlich an Dinge, die lange verschüttet waren, und nur dadurch konnte ich mich auch an ,Blank Project‘ machen.“ Es habe fast zwanzig Jahre gedauert, sagt Neneh Cherry. „Aber jetzt habe ich das Gefühl, dass ich wieder ganz bei mir bin. Ich bin wieder heil und kann von vorne beginnen.“