Warum schockiert Rock das Publikum heute so viel seltener?
In den 70ern provozierten Musiker wie Alice Cooper ihre Fans. Heute zählen andere Hard Skills.
Schock-Rock gibt es nicht mehr! Das sieht zumindest Alice Cooper so. „In den 70er Jahren war es einfach, das Publikum zu schockieren. Heute versucht das wirklich niemand mehr“, sagte der inzwischen 76-Jährige in einem Interview mit dem Radiosender KLPX. Noch immer setzt der Sänger auf blutige Theatralik auf der Bühne (Stichwort: Guillotine), aber kein Mensch verlässt mehr den Saal. Und andere Provokationen sind – zumindest dort, wo sich viel Geld verdienen lässt – selten geworden. Woran liegt es, dass Rock nicht mehr erschüttern will? Oder ist es die überforderte Menge, die sich auf dieses Angstlustspiel nicht mehr einlassen will?
Gore zelebriert zumindest Alice Cooper noch wie früher. „Diese Elemente sind weiter in der Show enthalten, weil es Spaß macht, sie zu sehen“, protokollierte er in dem Gespräch. Nicht ohne lachend darauf zu verweisen, dass er heute als junger Mensch wohl ganz andere Ideen einbringen würde als damals.
Was einmal aufregte, wird heute beklatscht oder belächelt
Fakt ist: Der Schockfaktor im Rock hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Was einst als radikal und provozierend galt, ist heute längst Teil des Mainstreams. Das Publikum hat sich an Extreme gewöhnt, und viele der früheren Tabubrüche sind gesellschaftlich akzeptiert oder werden, wenn sie symbolisch überspitzt sind, toleriert. Es wird weniger über Verfall, über Drogensucht und Egomanie gestaunt, als vielmehr erwartet, dass man ernsthaft etwas dagegen tut. Rockmusik hat viele Facetten bekommen, die in den 60ern und 70ern nicht mal erträumt wurden. Man denke nur an Coldplay. Man schaue nur einmal, wer als beste Rockband bei den MTV Video Music Awards nominiert ist.
Die Erinnerung mag trügen, aber in den 1970er Jahren gab sich Rockmusik den Anstrich, eine ungezähmte Kraft zu sein, die das Establishment durcheinander wirbelte. Musiker wie Alice Cooper oder Bands wie die Plasmatics schockierten mit exzessivem Lebensstil, provokativen Bühnenshows und einer rebellischen Haltung, die den gesellschaftlichen Konventionen der Zeit massiv entgegenstand. Es war eine Ära, in der jede Grenzüberschreitung sofort eine Gegenreaktion erzeugte. Eine Seite des Publikums suchte nach diesen Exzessen, die andere lehnte sie glühend ab. Für jeden gab es bei dieser Entscheidung einen Distinktionsgewinn. Das machte Rockmusik so mächtig, potent sowieso – und vielleicht auch gefährlich.
Doch heute, ein halbes Jahrhundert später, scheint das Publikum abgebrühter denn je. Provokationen, die einst für Skandale sorgten, lösen heute bestenfalls ein müdes Lächeln aus. Der Shitstorm, aber auch die Viral-Twister ziehen sowieso schnell weiter. Was in den 70ern noch eine radikale Form des Selbstausdrucks war, die zwangsläufig Tabus brach und neue gesellschaftliche Diskussionen anstieß, ist heute allgemein akzeptiert als Form des (kurzzeitigen) Eskapismus. Androgyne Musiker wie David Bowie oder Iggy Pop, der sich auf der Bühne selbst verletzte, wurden als kulturelle Ikonen verehrt, die das Verständnis von Identität und Geschlecht herausforderten. Sie waren den heute geführten gesellschaftlichen Diskussionen weit voraus, weil sie sie nicht als Persönlichkeiten des Alltags spiegelten, sondern als Kunstfiguren.
Rockmusik hat Schock-Konkurrenz bekommen
Themen wie Sexualität, Drogen oder sogar offen gezeigte Gewalt, die früher Empörung hervorriefen, sind heute allgegenwärtig in den Medien und der Popkultur. Sie sind nur einen Mausklick entfernt. Die Menschen sind müde geworden, schockiert zu werden, da sie ständig mit extremeren Bildern und Botschaften konfrontiert werden. Doch es gibt auch noch einen anderen Grund, warum das Publikum toleranter geworden ist und Subversion auf der Bühne auch gar nicht mehr einfordert.
In den 70ern waren Rockstars überlebensgroße Figuren, deren Leben und Musik eng miteinander verwoben waren. Beides bedingte sich gegenseitig. Von so manchen Eskapaden, etwa dem Verspeisen einer Fledermaus, spricht man noch heute. Diese Musiker, so könnte man meinen, lebten das Leben, das ihre Fans sich insgeheim wünschten – rebellisch und frei von gesellschaftlichen Zwängen. Dieser Mythos gehört längst der Vergangenheit an. Die sozialen Medien haben Künstlerinnen und Künstler insgesamt zugänglicher und menschlicher gemacht. Musikerinnen und Musiker wollen das auch. Wer aus sich ein Geheimnis macht, hat nur dann Erfolg, wenn es wirklich gut ist. Die Fans wissen, dass Rockstars am Morgen nach einer durchzechten Nacht genauso verkatert sind wie sie selbst. Ihre Heldinnen und Helden posten es ja sogar ins Netz. Diese Entmystifizierung hat dazu geführt, dass der Schockfaktor, der einst aus dieser scheinbar übermenschlichen Aura resultierte, weitgehend verschwunden ist.
Rockmusik ist längst kommerzialisiert. Rebellion gibt es nun gedruckt auf T-Shirts, die nicht nur in den coolen Läden zu kaufen sind, sondern auch bei den Discountern. Provokante Auftritte, kontroverse Songtexte und exzentrische Outfits sind nicht mehr Ausdruck eines vermeintlich authentischen Widerstands, sondern sehr oft Teil eines knallhart durchkalkulierten Marketingkonzepts. Das wissen die Menschen bei Tag, auch wenn sie es für einen Abend in einer Mehrzweckhalle gerne vergessen. Was zur Ware geworden ist, verliert seine Kraft, aufzuregen. Man wird nicht mehr mit Schockmusik konfrontiert, man entscheidet sich mit seinem Konzertticket für sie – oder dagegen.
Während also Provokation kaum mehr zieht oder – siehe Rammstein – in einer ewigen Wiederholungsschleife steckt, gibt es immer noch Musikerinnen und Musiker und auch gewiss einige Genres, die es schaffen, das Publikum buchstäblich von den Stühlen zu reißen. Allerdings nicht mehr im klassischen Sinne. Heute sind es eher politische Statements, die gehört werden wollen und gewissermaßen aufrühren oder für Zustimmung sorgen. Was bei Fragen des sozialen Gewissens in den 80er Jahren begann, von Bob Geldof bis U2, ist inzwischen in der ökosensiblen Ecke angekommen. Musiker sorgen sich um den Planeten und geben Konzerte mit geringem CO2-Ausstoß.
Der gefährliche Blick nach innen
Doch auch soziale Kommentare mit Blick auf Rassismus und MeToo oder die bewusste Infragestellung kultureller Normen sorgen für Aufmerksamkeit. Kendrick Lamar oder Billie Eilish schaffen es, ihre Zuhörer durch tiefgründige und oft unbequeme Inhalte herauszufordern, statt durch oberflächliche Provokationen. Sie sind hochpersönlich mit ihrer Kunst und setzen auf Empathie, anstatt eine Kunstfigur zu erschaffen, an der sich die Fans reiben sollen. Der tiefe Blick in den eigenen Abgrund, den die Zuhörerinnen und Zuhörer teilen wollen, ersetzt den Blick in mitunter eher kunsthafte Höllenlöcher. Der Schock besteht heute also eher darin, das Wesen von Frauenhass oder das Leiden an einer Depression drastisch zu vermitteln, anstatt der Welt nackte Tatsachen oder einen von Sucht aufgeriebenen Körper entgegenzustrecken.
In einer Welt, die von ständiger medialer Reizüberflutung geprägt ist, geht es weniger um äußere, oberflächliche Provokation und mehr um die Tiefe der Botschaften, die Musik vermittelt.
Kreislauf der Künste: Jene Sinnesüberreizung, für die Rock in den 70er Jahren einen Grundstein gelegt hat, will er nun womöglich wieder zurückdrehen. Man prüfe es an sich selber. Was löst tiefere Emotionen der herzpochenden Zustimmung ODER des resoluten Kopfschüttelns aus: Swift-Freundschaftsarmbänder oder Rammstein-Flammenwerfer?