Sammler des verlorenen Schatzes
Es gibt, abgesehen vom Brockhaus und dem Duden, eigentlich kein Nachschlagewerk, das zwingend in jeden Bücherschrank gehört. Es sei denn, man ist Musikliebhaber. Dann ist das „Rock-Lexikon“ ein Muss. Zumindest war es das. Es erschien erstmals 1973 und zeigte auf einen Schlag, wie komplex und fraktionalisiert die eigentlich noch junge Musikgattung inzwischen geworden war.
Die Pionierleistung im Taschenbuchformat, die die beiden erfahrenen Radio und Print-Journalisten Barry Graves und Siegfried Schmidt-Joos auf die Beine stellten, war immer mehr immer als nur ein nacktes Faktenmonster. Die beiden Autoren zeigten von Anfang an die Spurenelemente und Strömungen einer zeitgenössischen Musik auf, die mit dem Anstrich der subversiven Subkultur daherkam, aber deutlich aus dem Temperament und der Tonalität des Blues und der Country-Musik hervorgegangen war.
Wie die Neuberarbeitung zeigt, die Anfang August vom Rowohlt-Verlag auf den Markt gebracht wird, hat das Standardwerk über die Jahre deutlich an Volumen zugenommen. Aus einem Band wurden zwei, die Zahl der Stichwörter wuchs auf rund 1500, der Umfang auf über 2000 Seiten, auf denen sich mehrere hundertausend diskographische Verweise finden. Als Co-Autor Graves 1994 starb, war Schmidt-Joos gezwungen, neue Partner zu finden. Das ständige Edieren machte den Musikfachmann zu einem der bestinformierten und belesensten Kenner der Rockmusik, der in seiner Berliner Wohnung die wohl umfassendste rockmusikalische Bibliothek in Mitteleuropa zusammengetragen hat und ein enormes Schallplatten- und CD-Archiv besitzt.
Herr Schmidt-Joos, niemand kann sich soviele CDs leisten, wie bei Ihnen im Regal stehen. Wieviele sollte man gehört haben, um sich ernsthaft mit der Materie Rockmusik auseinandersetzen zu können?
Es kommt darauf, welchen Sachverstand man mitbringt. Wenn man von Klassischer Musik oder Jazz her einen Zugang zur Musik im Allgemeinen hat, dann kommt man mit hundert Platten – richtig sortiert — durchaus aus. Wenn man erst mit Rockmusik anfängt, braucht man schon mindestens tausend, um sich Maßstäbe zu erschaffen. Rock ist inzwischen ein breites und mit den beiden obigen Musiksegmenten vergleichbares Phänomen.
Um sich so genau zu informieren, muss man viel und genau recherchieren. Wie gehen Sie vor?
Die wichtigsten Quellen sind die amerikanischen, englischen und deutschen Rock-Fachmagazine sowie die großen Tages- und Wochenzeitungen mehrerer Länder, die wir oder unsere Mitarbeiterinnen in New York und London auswerten. Die Ausschnitte werden Woche für Woche in großen Pappkartons gesammelt. Außerdem eine Bibliothek von Musiker-Biografien. die inzwischen viele hundert Bände umfasst, und neuerdings natürlich das Internet.
Inzwischen holen sich die meisten ihre-Informationen aus Internet. Wie kann Ihr Lexikon gegen Wikipedia konkurrenzfähig bleiben?
Wikipedia ist als Daten und Faktensammlung konkurrenz-, aber nicht fehlerlos. Was wir von dort übernehmen, überprüfen wir an anderen Quellen. Vor allem aber ist unsere Zielsetzung eine andere. Die amerikanische Ausgäbe von Wikipedia bietet einen umfangreichen und im besten Falle neutralen Datensalat. Wir durchdringen den Stoff, gewichten, pointieren durch knackige Zitate und bieten dem Leser eine Orientierungshilfe an. Außerdem schreiben wir besser.
Heute würde ein solches Projekt vermutlich gar nicht mehr entstehen. Wie ist es damals, vor 35 Jahren, überhaupt dazugekommen?
Der Rowohlt-Verlag hatte erkannt, dass es auf dem internationalen Markt auch zwei Jahre nach Woodstock noch immer keine taugliche Rock-Enzyklopädie gab, und fragte mich, ob ich nicht eine schreiben wollte. Das musste schnell geschehen, denn das Thema lag in der Luft. Mit einem Fulltime-Job als Kulturredakteur beim „Spiegel“ konnte ich das allein nicht leisten und fand in Barry Graves, der zwischen Berlin und New York pendelte und für „Die Welt“ schrieb, einen kompetenten Partner. Er schrieb so ähnlich wie ich, hatte einen ähnlichen Informationsstand und denselben etwas ironischen Blick. Manchmal wussten wir selbst nicht mehr, wer was geschrieben hatte. Ich bin glücklich, dass das heute mit Wolf Kampmann ganz ähnlich funktioniert.
Trotz des „Spiegel“-Stils mit seinem Faible für Pointen wurde das Lexikon immer dicker. Gab es denn wirklich nichts Unwichtig-Gewordenes herauszufiltern?
Mit Ausnahme von ein paar Irrläufern aus E-Musik und Jazz haben wir nie etwas rausgeschmissen. Viel schwieriger war es für einen Musiker, überhaupt hineinzukommen. Wer uns einmal überzeugt hatte, musste auch bleiben. Bei der Singer/Songwriterin Judee Sill etwa, die nach zwei LPs an Drogen starb und vom Markt verschwand, fragte uns der Lektor bei Neuausgaben: „Brauchen wir die noch?‘ Na klar! Unlängst wurde sie von jungen Kollegen wiederentdeckt und wird nun in hohen Tönen gepriesen. Soll heißen: Auf das „Rock-Lexikon“ ist Verlass.
Wer sind eigentlich die Leser des „Rock-Lexikons“?
Bei der ersten Ausgabe waren es alle, die sich für Rockmusik interessierten, weil es nichts gab, wo man irgendetwas nachschlagen konnte. Später haben wir auch welche gehabt, die eingestiegen sind, weil sie etwas über bestimmte Stile wissen wollten und dann zu ihrer Überraschung auch Sachen aus anderen Stilen fanden. Heute habe ich gar keine Ahnung, wie weit die junge Generation noch Bücher liest oder alles aus dem Internet holt. Die Situation hat sich in den letzten zehn Jahren verändert. Aber ich bin sehr gespannt: Rockmusiker haben zuerst Einflüsse von außen absorbiert, z.B. aus dem Blues. Dann kam ein kreativer Schub in die Breite. Inzwischen scheint jedoch der Vorrat an neuen Ideen ausgeschöpft. Das muss einen doch nachdenklich stimmen, oder?
Die Geschichte der Rockmusik wird im „Rock-Lexikon“ in einem differenzierten und über die Jahre immer wieder fortgeschriebenen Einleitungs-Essay dargestellt. Da wird klar, dass sich die Musik auch nach vermeintlichen Endstadien wie dem bombastischen Progressive-Rock oder dem angeblich dekadenten Glam-Rock immer wieder aus sich selbst heraus verjüngt und erneuert hat. Denken Sie nur an Punk. Gewiss scheinen die meisten Fusionen zwischen Rock und etablierten anderen Musikstilen vollzogen zu sein. Aber im globalen Zeitalter haben wir es mit Weltmusik zu tun, und da gibt es noch viele Möglichkeiten.