Rückblick 2024: Warum wählen so viele Menschen im Osten AfD?
Thesen zum antidemokratischen Ruck im Osten gibt es viele, aber die eigentlichen Probleme werden nicht angegangen.
Die Ursachenforschung zur Populismusanfälligkeit in den gar nicht mehr so neuen Bundesländern gleicht einem Flickenteppich aus halb garen Meinungen, paternalistischem Gebaren und Opfermythen.
Die hier vorgestellte These lautet: Der Osten ist rechtsextrem aufgrund alleinstehender Männer. Der Osten – ein Junggeselle? Was ist damit gemeint?
Gefangen in der kulturellen Abwärtsspirale
Im Grunde genommen eine selbsterfüllende Prophezeiung: Die Schlauen und die Frauen (meist in Personalunion) ziehen weg, weil es an Jobs, Kitaplätzen, Bildungsmöglichkeiten, Bushaltestellen und medizinischer Versorgung fehlt. Der Braindrain hat im Osten verschiedene Phasen durchlaufen. Millionen gingen fort. Die Folge: Landstriche, in denen sich die Verbliebenen immer weiter radikalisierten. Regionen, in denen sich heute kein Mensch und keine Firma von außerhalb niederlassen will. Eine kulturelle und wirtschaftliche Abwärtsspirale.
Das Problem taugt nur nicht als Charakteristikum. Zu sagen, der Osten wählt rechts, weil dort lauter rassistische, homophobe, sexistische Single-Männer leben, ist ungefähr so fundiert, als würde man behaupten, dass Oskar Lafontaine den Ossis die Frauen ausgespannt hat.
Womöglich lassen sich für Letzteres sogar stichhaltigere Beweise finden. Frauenschwund und Männerüberschuss sind jedenfalls keine spezifisch ostdeutschen Phänomene. Sie lassen sich überall auf der Welt in abgehängten, von Wellen der Deindustrialisierung und Massenarbeitslosigkeit geschwächten Gebieten beobachten. Auch dann, wenn die Talsohle schon durchschritten ist.
Gefühlte Wahrheiten gedeihen am besten dort, wo kollektive Traumata noch frisch sind oder nicht aufgearbeitet wurden. Der Osten ist am Arsch, weil er lange Zeit der Arsch von Deutschland war. Allein die Frage bleibt: Warum gefällt er sich selbst in dieser Rolle? Warum verzeichneten in Sachsen, Brandenburg und Thüringen zwei Parteien, die die liberale Demokratie gern so schnell wie möglich abschaffen würden, erschreckende Erfolge?
Weil das Feld, auf dem die Faschisten von der AfD und die Krypto-Linken vom BSW Lügen und Ressentiments säen, von anderen politischen Akteuren bis heute nicht bestellt wird. Und weil im Osten die (DDR-)Tradition des Meckerns auf „die da oben“ viel lieber gepflegt wird, als individuell Verantwortung zu übernehmen.
Der Osten muss sich neu erfinden
Zu lange hat man der SED-Nachfolgepartei PDS/Die Linke die Deutungshoheit überlassen. Und nun? Ist der Berg an Herausforderungen riesig: Auseinandersetzung mit dem Erbe der Diktatur, die Folgen der Wiedervereinigung, ein populistisch befeuerter Mentalitäts-Umschwung von Minderwertigkeitskomplexen, hin zu einem ostalgietrunkenen Pseudo-Selbstbewusstsein in großen Teilen der ostdeutschen Bevölkerung usw.
Einer, der diesen Themen mit der nötigen Intoleranz für die Intoleranten auf den Grund geht, ist der Historiker und Freiheitsdenker Ilko-Sascha Kowalczuk. Er prognostiziert ein Zeitalter der autoritären Systeme. Seine Bücher werden uns davor nicht bewahren. Aber sie sind ein Gegengift gegen rechte wie linke Propaganda.