Ein Antiquar wird zum TikTok-Star
Klaus Willbrand ist Bookfluencer und spricht auf TikTok über Literatur. Er begeistert ein junges Publikum für die Mühe und den Genuss des Lesens.
„Ach gott …“ der 83-jährige Klaus Willbrand schmunzelt, als ihm in einem kurzen Video auf TikTok die Frage gestellt wird: „Was muss ein junger Mensch gelesen haben?“ Ein junger Mensch müsse überhaupt nichts gelesen haben, findet er. „Man kann auch ohne Lesen überleben.“
Auf den Kölner Buchantiquar selbst trift diese Aussage eher nicht zu. Lesen ist für ihn eine Art Grundnahrungsmittel. Das Wissen, das er dabei erworben hat, macht ihn seit dem Frühjahr 2024 zum Social-Media-Star.
Vielleicht gibt es im allgemeinen Geplapper der Neuigkeiten-Streams, Kommentarspalten, zwischen Food-Fotografie, Kosmetik- und Selfcare-Inluencern mittlerweile tatsächlich eine Sehnsucht nach Tiefe und Substanz. So erklärt sich zumindest die 50 Jahre jüngere Daria Razumovych, warum ihre Konten mit Klaus Willbrand als Protagonist so unglaublich erfolgreich sind: Auf Instagram hat er bald 150.000 Follower, und auch auf TikTok sind es rund 50.000 – einzelne Videos wurden allerdings schon millionenfach gestreamt. Zum Beispiel das, in dem er Hermann Hesse für „ganz klar überschätzt“ erklärt.
Die frohe Kunde, dass Literatur ein Thema auf TikTok ist, hat im vergangenen Jahr die Runde gemacht. Allerdings vermutet man, dass das vor allem an neuen Genres (oder neuen Genre-Bezeichnungen für alte Inhalte) liegt. So reagierten auch die Buchmessen und nahmen neben Fantasy, Thrillern und Krimis, bei denen man schon länger eine junge, in den sozialen Medien aktive Leserschaft vermutet, auch New Adult, Young Adult und New Romance ins Programm.
Für Klaus Willbrand sind diese Genres allerdings überhaupt kein Thema. In seinem kleinen Antiquariat im Kölner Stadtteil Lindenthal nahe der Universität stehen deutsche und internationale Literatur, Bücher zu Theater, Philosophie, Soziologie, Politik und Kunst, Hardcover, Taschenbücher, günstige Schnäppchen und wertvolle Erstausgaben – alle vom Buchhändler so ausgewählt, dass er für ihre Qualität bürgen kann.
Klaus Willbrand kann Literatur erklären
So funktionieren auch die viel geklickten Videos: Klaus Willbrand empfehlt Weltliteratur, spricht über ihren Inhalt, ihre Ausgaben, Begegnungen mit Autoren, verlegerische Entscheidungen, das Papier, die Schrift. Besucht man ihn im Laden, braucht man ihm nur ein Stichwort zu geben und er öffnet in einer langen Assoziationskette gern die Kiste seines Erfahrungsschatzes. Er mag lange Sätze, auch wenn er sich wie jeden Abend zwischen 23 und 3 Uhr nachts hinsetzt und liest.
Dann dürfen es auch Faulkner und vor allem Proust sein. Die neue Übersetzung von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ war ein Anlass, sich die sieben Bände zum dritten Mal vorzunehmen. „Ich habe die 4500 Seiten in 47 Tagen gelesen, man kann sagen, in einem Gewaltakt.“ Er liest konzentriert, achtet auf Feinheiten, „das ist auch Arbeit“. Nur so könne man erkennen, was Kafka meinte, als er sagte: „Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“
Hinter dem Erfolg des 83-jährigen Antiquars in den sozialen Medien steht auch die Geschichte einer wunderbaren Freundschaft, die zur Rettung seines Ladens geführt hat: Vor drei Jahren entdeckte Daria Razumovych Klaus Willbrands Stand auf dem Bücher-Antikmarkt am Kölner Neumarkt.
Die 30-Jährige, die damals noch als Lektorin für den Kunstbuchverlag Taschen gearbeitet hat, blieb an einer Marcel-Proust-Ausgabe im schönen Leineneinband hängen und kam bald mit dem Händler ins Gespräch. Später besuchte sie ihn auch im Laden, die beiden hatten viele gemeinsame Themen, und über die Zeit freundeten sie sich an.
Manchmal sagte der Antiquar zu ihr, auch wenn sie gar nicht früh unterwegs war: „Du bist heute die erste Kundin.“ Irgendwann kündigte Daria Razumovych ihren Job mit dem Plan, sich als freie Lektorin, Social-Media- und SEO-Expertin selbstständig zu machen, und ging erst mal ein paar Monate auf Asienreise. Klaus Willbrands Situation verschlechterte sich dramatisch: „Manchmal kam zwei Tage lang kein einziger Kunde“, erinnert er sich. Deshalb rannte die junge Freundin nach ihrer Rückkehr offene Tore ein, als sie die Idee äußerte, es doch mal in den sozialen
Medien zu versuchen.
Ein eigenes Buch darf nicht fehlen
Dem Buchhändler war klar: Entweder das – oder zumachen. Mittlerweile ist Daria Razumovych auch Geschäftspartnerin, die Kunden strömen wieder und kaufen zudem online Angebote wie die „Mystery-Boxen“ mit individuell zusammengestellten Büchern zu einem Thema. 2025 wird Klaus Willbrand sogar selbst Buchautor. Der Verlag Fischer kam auf ihn zu mit dem Wunsch eines Buchprojekts – Thema egal.
„Einfach Literatur. Eine Einladung“ wird im Juni erscheinen und mit einem Vorwort und einem Schlusskapitel von Daria Razumovych unter anderem davon erzählen, wie der Antiquar als Fünfähriger in seiner Heimat im kriegszerstörten Ruhrgebiet in einem Krankenhaus liegt und sich das Lesen beibringt – und sich damit Zugang zu seiner Welt verschafft, in der er sich bis heute am liebsten aufhält.