Rückblick 2017: Alles ist Jazz
Nach Jahrzehnten in Kellerkaschemmen kehrt die kosmische Musik auf die große Bühne zurück. Es ist wieder hip, Jazz zu hören
Ob der Jazz wirklich schon wieder die Musik der Zukunft ist, wie manche Kommentatoren meinen? Nicht jedem Hype soll man bekanntlich trauen. Sicher ist aber, dass sich der alte Zombie Jazz wieder recht munter im Jetzt bewegt. Egal ob man einen greisen Kosmiker wie Pharoah Sanders im Konzert besucht oder dem Fusion-Pionier Herbie Hancock auf der Bühne zuschaut: Man wird Leute ohne Grau im Haar finden.
Und umgekehrt hört man in den Hipsterclubs und hinter Elektropulten immer öfter improvisierende Musiker. So war zum Beispiel Pharoah Sanders’ einziger Deutschlandauftritt im November in Berlin von Rabih Beaini organisiert – er betreibt das schicke Elektrolabel Morphine und quietschte und dröhnte auch selbst im Vorprogramm an elektrischem Gerät.
Frühere Revivals spielten gern mit der hippen Tradition des Jazz, um 1980 etwa die Lounge Lizards und James Chance, im Jahrzehnt darauf HipPopper wie Us3 oder die ambitionierten Gang Starr. Zur Zeit herrscht eher Austausch. Hancock ist ein gutes Beispiel: Sein Tourquartett wird von dem Produzenten, Keyboarder und Saxofonisten Terrace Martin geleitet: Der 36-Jährige fühlt sich von Hancock beeinflusst, aber live hat er dem 77-Jährigen offenbar den Vocoder als Instrument nahe-gebracht und den Sound untenrum mit modischen Subbässen durchblutet.
Bekannt wurde Martin dabei nicht als Jazzmusiker, sondern durch seine grammybelohnte Produktion von Kendrick Lamars HipHop-Großwerk „To Pimp A Butterfly“. Er hat dem Album 2015 eine insgesamt jazzige Offenheit verpasst und dazu Musiker versammelt, die wie er selbst und Saxofonist Kamasi Washington aus der Jam-Szene von Los Angeles stammen.
Washington hat mit seinem tatsächlich epischen Langspieldebüt, „The Epic“, einer Mischung aus spirituellem Jazz und Neo-R&B, 2015 einen Pop-Hit gelandet und in diesem Jahr das kleine, feine „Harmony Of Difference“ nachgelegt, das nur nicht in den Jahrescharts landen konnte, weil es streng genommen ein Mini-Album ist. Seinem Fahrwasser folgend (und oft aus den gleichen Sessions und Clubs in L.A. kommend) haben in diesem Jahr der Bassist Thundercat mit dem erstaunlichen Neo-Fusion-Ding „Drunk“, sein Bassistenkollege Miles Mosley mit dem Neo-Prince-Sound von „Uprising“ und der Keyboarder Cameron Graves mit dem explosiven „Planetary Prince“ die Popclubs bespielt. Terrace Martin tourte indes mit seinem sechsten Solo-album, „Velvet Portraits“ von 2016, einem sehr hübschen jazzigen R&B- oder auch R&Bigem Jazz-Album über seine Heimatstadt L.A. Derzeit produziert er Herbie Hancocks neues Album – und das von Post-R&B-Newcomerin SZA.
Auf Musikerseite haben jetzt Leute das Sagen, die wie Tyshawn Sorey – multi-funktionaler Shootingstar der freien Szenen in diesem Jahr – mit HipHop und Elektronik aufgewachsen sind. Zugleich wird die erste Generation erwachsen, die in eine voll ausgebildete Netzkultur hineingeboren wurde: die lassen sich von Hyperlinks durch die Musikgeschichte treiben und hören dabei eben einfach alles. In der Elektronik wiederum interessiert man sich ohnehin schon länger für Improv und Jazz, auch jenseits plakativer Projekte wie des Berliner Trios Brandt Brauer Frick oder zuletzt des Duos von Dubtechno-Erfinder Moritz von Oswald mit Juan Atkins. Von der Jazzseite her hat sich unter anderem der Pianist Vijay Iyer in großartiger Weise mit Techno beschäftigt – wobei gerade dessen neues Album, „Far From Over“, sich wieder in die Geschichte des freien Jazz zurückzubewegen scheint.
Aber vielleicht hat man es bei dem ganzen gegenwärtigen Hype ja auch weniger mit einer Renaissance des Jazz zu tun als vielmehr mit einer Generation von Hörern und Produzenten, die sich nicht mehr um Nischen und Gattungen kümmern, sondern sich unbeschwert im Fluss musikalischer Identitäten einzurichten verstehen.