7 großartige Beobachtungen beim Roskilde Festival 2019
Das dänische Open Air begeistert mit Line-Up-Vielfalt und seiner ungemein gemeinnützigen Idee. Davon könnten sich einige eine Scheibe abschneiden.
Wenn in der ersten Juliwoche 130.000 Besucher das Städtchen Roskilde einnehmen, dann wird aus dem Ort mit 50.000 Einwohnern die viertgrößte Stadt Dänemarks.
Das achttägige Open Air zählt zu den ältesten noch bestehenden Festivals Europas und interpretiert den ursprünglich Hippie-Gedanken so modern wie nur wenige Veranstaltungen. Dabei ist das Roskilde in vielen Bereichen Pionier.
Die Dänen können immer noch bessere Line-ups
„Ich kann es nicht fassen, dass ich auf einem Festival mit Bob Dylan, Travis Scott und Skepta spiele!”, staunt Rosalía lachend während ihres Sets im überquillenden Avalon-Zelt. Damit fasst die katalanische Sängerin, die sich mit Flamenco-Pop in die Charts katapultiert hat, den musikalischen Umfang des Roskilde Festivals nur grob zusammen. Denn die Booker laden nicht nur erstklassige Perlen aus Rock, Pop und HipHop ein – Metaller, Jazz-Liebhaber und Elektronik-Begeisterte kommen auch auf ihre Kosten.
Wenn um 15 Uhr die Orange-Stage, das Avalon-Zelt und die Arena eröffnet werden, reihen sich bis nach Mitternacht Konzerte von Musikern, die anderswo Headliner sein würden – wo sonst kann man an einem Nachmittag Johnny Marr, Spiritualized, Vampire Weekend, Wu-Tang Clan und Robyn sehen? Ganze 188 Künstler spielen innerhalb von acht Tagen auf dem Open Air. Dabei gehört die erste Festivalhälfte exklusiv Künstlern, die am Anfang ihrer Karriere stehen. Die dänische Pop-Koryphäe MØ, die hier vor sechs Jahren ihren ersten großen Auftritt hatte und am Donnerstagabend als Headliner auf der Orange Stage auftrat, ist das beste Beispiel dafür, dass auch Newcomer viel Aufmerksamkeit beim Roskilde bekommen.
Diversität schadet nie
Ein Blick auf das Line-up, das Genregrenzen sprengt, zeigt, dass es nicht schwer ist, das Line-up nicht männerzentriert zu gestalten. Auf dem Roskilde treten allerlei schwarze und explizit queere Künstler*innen auf – von Headliner-Größen wie Janelle Monáe und Neneh Cherry bis zu aufsteigenden Künstlerinnen wie die Grime-Musikerin Flohio, oder die Indie-Band Girlpool mit Trans-Mitglied. Im verhältnismäßig kleinen House of Chroma, eigentlich als Diskussions-Ort gedacht, zauberte das Funk-Duo The Illustrious Blacks mit Latex-Anzügen und Stiefeletten eine der besten Disco-Momente. Kurz bevor die zwei Männer die Bühne für das tanzwütige Publikum freigaben, küssten sie sich und lösten damit großen Jubel aus.
Der Campingplatz ist ein eigenes separates Festival
Um 130.000 Teilnehmende unterzubringen, braucht es viel Fläche. Einige Besucher brauchen eine gute halbe Stunde zu Fuß, um auf das eigentliche Festivalgelände zu kommen. Viele Camper nutzen aber diese Weite dazu aus, um selbst kreativ zu werden – ob ganz einfach mit Boombox, oder aber auch mit selbstgebauten Häuschen. Für manche ist das Geschehen auf dem Campingplatz statt den Konzerten das eigentliche Event.
AmazonSo etwa eine Gruppe, die seit zehn Jahren das Camp Helge veranstaltet: Um den besten Platz für ihre riesige Stereo-Anlage zu sichern, campen die Burschen schon einige Tage vor Festivalanfang vor den Toren des Campinggeländes. So finden nach den Konzerten die besten Partys mit teilweise 500 Leuten an einem Platz bei den Zelten statt. Zudem gibt es die Dream City: Ein Bereich, wo ausgewählte Besucher, die zuvor außerordentliches auf dem herkömmlichen Gelände geleistet haben, bereits 100 Tage vor Festivalbeginn sich kreativ austoben und eine eigene Stadt errichten können.
Der musikalische Generationenkonflikt ist überbrückbar
Das durchschnittliche Besucher-Alter des Roskilde liegt bei 24 Jahren und soll laut den Veranstaltern auch nicht älter werden. Trotzdem sind auch viele Zuschauer über dem Altersdurchschnitt unterwegs, die die Booker mit Konzerten von Bob Dylan, Robert Plant, oder The Cure bedienen. Das heißt aber nicht, dass nur über 40-Jährige bei “Friday I’m In Love” mitsingen, oder bei der Pop-Musik von Robyn nur Mitzwanziger rumspringen.
Das Publikum bringt überallhin eine sprudelnde Neugierde und Euphorie, die sich auch auf die Künstler überschlägt: Christine & The Queens covert zusammen mit Tausenden David Bowies „Heroes”, Lizzo steht sprachlos vor dem Publikum, als es nach ihrer beeindruckenden Selbstliebe-Rede immer wieder ihren Namen zuruft und Janelle Monaé holt Fans auf die Bühne, die teilweise in ihren Armen zusammenbrechen. Als am Samstagnachmittag Dänen jedes Alters zu der Dancehall-Beatmusik von Bikstok tanzen (Ja, das ist die dänische Version von Seed), ist von dem immer wieder heraufbeschwören Unverständnis zwischen Jung gegen Alt nichts zu merken.
Bob Dylan bleibt zwar während seines gut besuchten Konzerts auf der Hauptbühne bei seiner notorischen Schweigsamkeit, doch einige Male zucken seine Mundwinkel, sodass man denken könne, der alte Meister hätte kurz gelächelt. Nur eine bleibt ganz in ihrem Element: Cardi B verbringt 45 uninspirierte Minuten mit ganz viel Twerking, verwechselt dabei Dänemark mit Denver und benennt das Festival in „Roxanne“ um. Übrigens: Coachella-Girls sucht man hier vergeblich – alle sind sympathisch in Wollpullis und Gummistiefeln unterwegs.
Das Freiwilligen-Konzept stärkt nicht nur das Festival-Gefühl
Die Gemeinschaftsidee des Roskilde ist kein neues Konzept – schon seit 1972 spendet das Non-Profit-Festival seine Einnahmen an allerlei wohltätige Zwecke. Von den 130.000 Besuchern sind 30.000 Freiwillige, die das Festivalkonzept erst möglich machen. Viele von ihnen sind schon seit Jahrzehnten dabei.
Ein 55-jähriger Bändchenkontrolleur beschreibt etwa, wie die meterhohen Bäume hinter der Orange Stage noch nicht da waren, als er zum ersten Mal beim Roskilde aushalf. „Das hier sind meine Ferien!“, erklärt er begeistert. Die Tatsache, dass jeder und jede dieses Festival mitgestaltet und an das liebevolle Konzept glaubt– ob als Besucher in der Festivalwoche selbst oder als einer der vielen Engagierten, die das Ereignis das ganze Jahr über vorbereiten –, macht das Roskilde erst zu dem, was es ist.
Ein Festival sollte viel mehr sein als einige Tage mit Konzerten
Das Roskilde ist einerseits eine gut geölte Festivalmaschine mit ausgeklügeltem und seit Jahren bewehrtem Konzept, andererseits verändert sich das Gelände jedes Jahr aufs Neue. Neben dem stets veränderten Mischmasch aus Musik, Kunst und Aktivismus haben Bühnen wie das Avalon-Zelt den Anspruch, mindestens alle drei Jahre das ästhetische Konzept zu verändern. Sie ziehen deswegen gerne mal auf die andere Seite des Geländes.
Die Panel-Bühne House of Chroma mit einem Vortrag vom Occupy-Wall-Street-Mitbegründer Micah White, einem Workshop über jüdisches Leben in Dänemark und die Bedeutung von Aktivismus wie Fridays for Future ist komplett neu. Dieses Festival-Gefühl ermutigt seine Besucher zudem, das erlebte Engagement und die Solidarität nicht nur auf die Woche in Roskilde zu beschränken, sondern auch in das restliche Jahr zu tragen.
130.000 Menschen hinterlassen Unmengen an Müll
Trotz den großen Bemühungen der Veranstalter, das Umweltbewusstsein stetig zu vergrößern, bleiben die Müllberge während und nach dem Roskilde groß. Das Festival muss jedes Jahr etwas mehr als eine Million Euro springen lassen, um hinterlassene Zelte, Möbel, Alltagsgegenstände, Bierdosenhaufen und vieles mehr zu beseitigen – davon sind viele Gegenstände noch vollkommen intakt.
Seit diesem Jahr kämpft das Festival zudem gegen die Plastikflut und hat ein Pfandbecher-System etabliert (hier ist man in Deutschland tatsächlich deutlich weiter). Plastikbecher und Dosen bleiben jedoch trotz vielen müllsammelnden Volunteers und der Awareness-Kampagne überall liegen. Da lohnt ein Blick auf das Glastonbury Festival, dass dieses Jahr komplett auf Einwegplastikflaschen verzichtet hat – vielleicht zieht das Roskilde ja nächstes Jahr mit.
Diese Konzertreise wurde unterstützt von Factory92.