Rolling Stones: Mick Jagger und Keith Richards im ROLLING-STONE-Interview
Die Wiederveröffentlichung von „Goats Head Soup“ zeigt die Band an einem stilistischen Kreuzweg. Die unerwartete Identitätssuche produzierte ein Album, das 1973 wenig Freunde fand, inzwischen aber eine erstaunliche Renaissance erfährt.
Vor einer Weile bekam Mick Jagger einen Anruf von seinem Label: Bei der Arbeit am Reissue des Albums war das Team auf unveröffentlichte Tracks gestoßen. „Ich weiß noch, was mir in diesem Moment durch den Kopf ging“, so Jagger, „nämlich: Oh no! Unveröffentlichte Aufnahmen bedeuten für mich immer zusätzliche Arbeit. Denn in der Regel sind es ja unfertige Tracks, die man nicht sonderlich mochte und deshalb zur Seite schob.“
Jaggers Stimmung verbesserte sich, als er das Material wieder hörte. „Ich musste mir eingestehen, dass es nicht übel war – eigentlich sogar verdammt gut.“ Da er sich ohnehin gerade auf seinen Landsitz zurückgezogen hatte, machte er sich gleich an die Arbeit und schrieb neue Lyrics zu „All The Rage“ – einer Nummer, die er vor genau 47 Jahren zu Papier gebracht hatte. „Denn letztlich“, so Jagger, „bearbeitet man diese Tracks genauso, als habe man sie erst letzte Woche aufgenommen: Wo sind meine Marakas? Irgendwo müssen doch die gottverdammten Marakas hier noch rumliegen.“
Hypnotische Experimente und zähnefletschende Rocker
„Goats Head Soup“ entstand zu einem Zeitpunkt, als sich Unsicherheit innerhalb der Band breitgemacht hatte. Nach der erfolgreichen „Exile On Main Street“-Tour waren sie auseinandergegangen und über den ganzen Globus verstreut. Ende 1972 traf man sich dann im jamaikanischen Kingston, um eine Handvoll von Grooves einzuspielen, die herber und sperriger waren als alles, was sie bis dahin aufgenommen hatten.
Es gab hypnotische Experimente („Can You Hear The Music?“), zugedröhnte Balladen („Coming Down Again“) und zähnefletschende Rocker („Dancing With Mr. D“), die weder beim Publikum noch bei den Kritikern sonderlich gut ankamen.
Bei den anschließenden Tourneen verschwand das Material schnell von der Setlist. „Es war offensichtlich kein Album, das die Fantasie der Hörer so anregte wie ,Exile On Main Street‘„, konstatiert Jagger, „mich eingeschlossen.“
Keith Richards erinnert sich noch genau an den Ort, an dem er einen der Hits des Albums schrieb: das Badezimmer der Rehab-Klinik in der Schweiz, wo er sich von seiner Heroinsucht zu befreien versuchte. Nach drei der schlimmsten Tage seines Lebens stellte sich in seinem Kopf eine Melodie ein, die sich dann zügig zu „Angie“ entwickelte. Es war eine gefühlvolle Ballade, die teilweise vom Namen des Babys inspiriert war, das er 1972 mit Anita Pallenberg in die Welt gesetzt hatte.
Keith Richards: Stones lebten wie Wanderer
Als Jagger den alten Freund in der Schweiz besuchte, wusste er sofort, dass „Angie“ ein Renner sein würde. Er selbst hatte ebenfalls ein paar Songs vorbereitet, die er mit Richards besprechen wollte. Nachdem sie zehn Jahre lang eng zusammengearbeitet hatten, fanden sie sich plötzlich in verschiedenen Ländern wieder.
Nach einer Drogenrazzia in Nellcôte, seinem Domizil in Südfrankreich, hatte sich Richards schnell aus dem Staub gemacht. Die US-Visa der Band waren abgelaufen – und England war ihnen aus steuerlichen Gründen versperrt. „Als wir ,Exile‘ aufnahmen, hockten wir noch immer aufeinander wie die Glucken“, so Richards. „Als dann ,Goats Head Soup‘ anstand, lebten wir wie Wanderer. Trotzdem gemeinsam Songs zu schreiben, war eine Fertigkeit, die Mick und ich erst noch lernen mussten.“
https://www.youtube.com/watch?v=GlSbQNHHy50
Jamaika-Album ohne Reggae
Sie wählten Jamaika nicht zuletzt deshalb, „weil es einer der wenigen Orte war, die uns überhaupt reinließen“, so Richards. Nachdem noch Billy Preston als Keyboarder dazugestoßen war, „arbeiteten wir wie die Irren – von Mitternacht bis morgens um zehn.“ Jagger erlaubt sich den Hinweis, dass die Stones vermutlich die einzige Band in der Welt seien, „die ein Jamaika-Album ganz ohne Reggae-Referenzen“ gemacht hätten.
Stattdessen verweist er auf das funkige Dreieck, das sich aus den Gitarren von Richards‘ und Mick Taylor sowie dem E-Piano von Billy Preston gebildet habe. „Es ist nicht unbedingt Herbie Hancock, aber es geht schon ein bisschen in diese Richtung.“
Die Band rotzte die Basic Tracks innerhalb einer Woche heraus. Auf dem neuen Box-Set hört man etwa auf dem Instrumental-Jam von „Dancing With Mr. D“, wie locker sie es angehen ließen. „An den meisten Songs hatten wir noch nicht ernsthaft gearbeitet, als wir ins Studio gingen“, sagt Richards. „Einige von ihnen waren gerade mal eine Stunde alt.“
Einer seiner Favoriten ist das von Jagger geschriebene „Winter“, in dem ein Liebhaber ein Date mit seiner Flamme verpasst, weil er in der gottverdammten Provinz festsitzt. Mick Taylor, der die Band ein Jahr später verließ, spielt dazu ein rauschhaftes Solo. „Ich war immer ein Fan von ihm“, so Jagger. „Er hatte die Fähigkeit, wirklich hübsche Melodien um die Songs zu wickeln.“
Im nächsten Sommer marschierte „Angie“ auf Platz eins und maß sich dort mit neuen Konkurrenten wie David Bowie und Elton John. Das neue Album, sagte Jagger damals dem ROLLIG STONE, sei „fokussierter“ als „Exile“ – ein Urteil, das er heute allerdings nicht mehr unterschreiben würde. „Wenn ich ein Album promoten soll, sag ich nun mal ’ne Menge dummer Sachen“, gesteht er inzwischen. „Man sollte das nicht unbedingt auf die Goldwaage legen.“
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Zu Anfang des Jahres hatte sich Jagger bereits fest auf eine weitere Stones-Tour eingestellt. Nachdem Covid-19 diese Pläne zunichte gemacht hatte, nutzte er nun die Zeit, um sich fit zu halten und neue Songs fürs kommende Album zu schreiben.
„Ich kann über meine generelle Situation eigentlich nicht klagen“, sagt er, „aber eines vermisse ich doch: das Performen.“ Richards, der sich in sein Haus in Connecticut zurückgezogen hat, geht es nicht anders: „Ich hoffe, dass wir im nächsten Jahr alle wieder zusammenkommen – und dann bitte schön auch ohne Masken.“