Die 100 größten Musiker aller Zeiten: The Rolling Stones – Essay von Steven van Zandt
„Beggars Banquet“, „Let It Bleed“, „Sticky Fingers“ und „Exile On Main Street“. Zusammengenommen ist das für mich die wahnsinnigste Serie von Rockalben in der Geschichte – entstanden in dreieinhalb Jahren. Die Rolling Stones sind mein Leben. Wenn sie nicht gewesen wären, wäre ich tatsächlich ein „Soprano“ geworden.
The Rolling Stones
Von Steven Van Zandt
Die Rolling Stones sind mein Leben. Wenn sie nicht gewesen wären, wäre ich tatsächlich ein „Soprano“ geworden. Das erste Mal sah ich sie im Fernsehen. Das war 1964. Die Beatles waren damals perfekt: die Haare, die Harmonien, die Anzüge. Sie verbeugten sich synchron. Ihre Musik war ungeheuer raffiniert. Die ganze Sache war aufregend und fremdartig, aber auch sehr weit weg in ihrer Perfektion. Die Stones waren auch fremdartig und aufregend, aber bei ihnen lautete die Botschaft: „Vielleicht kannst du das auch.“
Die Haare waren schlampiger. Die Harmonien ein bisschen daneben. Und lächeln taten sie überhaupt nicht, glaube ich. Sie gaben sich wie R&B-Traditionalisten: „Wir sind nicht im Showbusiness. Wir machen keine Popmusik.“
Und der Sex in Mick Jaggers Stimme war erwachsen. Das war kein Pop-Sex – Händchen halten, Flaschendrehen spielen. Das war the real thing. Jagger hatte dieses beiläufige Ich-erzähl-euch-mal-was, das R&B-Sänger und Blueser auszeichnet, halb singen, halb sprechen, die Noten nicht ganz halten. Als das Popradio anfing, Jaggers Stimme zu akzeptieren, war das ein Wendepunkt im Rock’n’Roll. Er hat die Tür für alle anderen aufgemacht. Plötzlich wirkten Leute wie Eric Burdon und Van Morrison nicht mehr so merkwürdig. Nicht einmal Bob Dylan.
„Iggy Pop und Jim Morrison haben das dann noch eine Stufe weiter geführt, aber ursprünglich stammt es von Jagger“
Das war etwas ganz Neues: ein Weißer, der sich auf der Bühne wie ein Schwarzer aufführte. Was wir mit schwarzen Performern verbinden, geht zurück auf die Kirche – sich dem Spirit hinzugeben und sich durch ihn bewegen zu lassen, alle gesellschaftlich diktierten Hemmungen und Peinlichkeiten über Bord zu werfen. Es zuzulassen, dass man sich nicht mehr unter Kontrolle hat. Das war es, was Mick Jagger rüberbrachte. Natürlich waren hier und da ein paar Tanzschritte von James Brown und Tina Turner dabei. Aber James Brown war extrem choreografiert. Diese seltsamen Verrenkungen, die Mick Jagger machte, das war der Spirit. Iggy Pop und Jim Morrison haben das dann noch eine Stufe weiter geführt, aber ursprünglich stammt es von Jagger.
Am Anfang war es Brian Jones’ Band. Er gab ihr ihren Namen. Er managte sie, organisierte Konzerte und beschwerte sich bei den Zeitungen, wenn die was Schlechtes schrieben. Das coole Image und die Aggressivität – das kam auch von ihm. Und die Tradition. Er verwendete das Blues-Pseudonym Elmo Lewis und spielte Bottleneck-Gitarre. Auf Alben wie „December’s Children“ und „Aftermath“ spielte er dann eine Menge anderer Instrumente: Laute, Cembalo, Sitar. Er war ungeheuer kreativ und einflussreich.
Rolling Stones – Heart of Stone:
Aber auch Keith Richards nimmt man für viel zu selbstverständlich. Der ewige Rhythmusknecht. Dabei spielt er großartige Soli: „Heart Of Stone“, „It’s All Over Now“. Und dann die Riffe: „Satisfaction“, natürlich, und „The Last Time“, das die Stones selbst für ihren ersten richtig guten Song hielten. „Honky Tonk Women“ ist nur ein einziger Akkord. Dann fing er an, seine Gitarre anders zu stimmen: zum Beispiel mit dem G-Tuning und der fünfsaitigen Version davon. Es gibt Akkordfolgen, die zu diesen Stimmungen passen – nennen wir es den „Gimme Shelter“-Effekt –, bei denen du eine einzelne Note hinzufügst, und alles wird gleichzeitig melodischer und rhythmischer. In der E Street Band spiele ich ständig Rhythmusgitarre im Richards-Stil. Jeder, der Rockgitarre spielt, tut das.
Bill Wyman und Charlie Watts wussten besser als jedes andere Bass/Drum-Gespann im Rock’n’Roll, wie man swingt. Heutzutage ist das ja nicht mehr cool, aber damals war Rock’n’Roll etwas, zu dem man tanzte. Man kann sich vorstellen, was das für einen Spaß gemacht haben muss, in London, im Station Hotel, 1962 oder 63: Das Publikum total aus dem Häuschen, die Stones dito, alles wie in einem Bluesclub an der Southside in Chicago. Man hört das in der Musik.
Heute gibt es ganze Generationen junger Leute, die die Stones nur noch als Ikonen kennen, keinen Bezug mehr zu ihrer Musik haben. Denen würde ich die ersten vier Alben schicken, in der amerikanischen Version: „England’s Newest Hitmakers“, „12×5“, „Now!“ und „Out Of Our Heads“. Die nächste Lektion wäre dann die zweite große Phase: „Beggars Banquet“, „Let It Bleed“, „Sticky Fingers“ und „Exile On Main Street“. Zusammengenommen ist das für mich die wahnsinnigste Serie von Rockalben in der Geschichte – entstanden in dreieinhalb Jahren.
Die Stones spielen heute in mancher Hinsicht besser als in den 60ern. Damals waren sie ziemlich schlampig, was mir persönlich gefällt. Technisch gesehen sind sie besser denn je. Das Problem ist, ihre Power kommt von den ersten zwölf Alben. Seit 1972 gab es nur noch eine Handvoll guter Songs. Aber wenn sie tolle Alben machen und live so spielen würden, wie sie es heute tun – mein Gott, wäre das überhaupt auszuhalten?