ROLLING-STONE-Helden: Bruce Springsteen
Lesen Sie hier das Springsteen-Porträt von Jan Wigger
Jan Wigger schrieb von 1997 bis 2015 für den ROLLING STONE. Im Jahr 2014 verfasste er – zum 20. Jubiläum der deutschen Ausgabe – diesen Essay über Bruce Springsteen, Teil der Reihe „Unsere Helden“. „Man ist nicht einmal deshalb bewegt, weil Springtseen das eigenen Leben berührt. Man ist ergriffen, weil Springsteen das Leben der Anderen berührt.“ Den Nachruf auf Jan Wigger, verfasst von Redakteur Maik Brüggemeyer, lesen Sie hier.
Heute gibt es ja in fast jedem Film, in fast jeder Serie an irgendeiner Stelle eine Bruce-Springsteen-Referenz. Doch schon Mitte der Achtziger, in Joel Schumachers „St. Elmo’s Fire“, stritten Alec (Judd Nelson) und Leslie (Ally Sheedy) nach der Trennung um die gemeinsamen Schallplatten: Er gibt die erste Pretenders nicht frei, sie nimmt „Thriller“ und Mahlers Neunte, und als sie sich weiter zerfahren durch die Schätze wühlt, haut er auf den Tisch: „No Springsteen is leaving this house!“ Vielleicht muss man diese Szene kennen, um Rang, Tragweite und Bedeutsamkeit der amerikanischen Naturgewalt ganz erfassen zu können.
Und weil es Millionen von Springsteen-Fans gibt, gibt es auch Millionen Boss-Geschichten – von Glücklichen und Gestrandeten, von Liebhabern und Vereinsamten, von Gründern und Zugrundegegangenen. Hier ist eine davon: In unserer Familie gab es keine dollen Bücher, keine Filme und nur ein wenig Musik. Im Wohnzimmerschrank standen eine Handvoll Platten: Tina Turner, Milva, Peter Maffay, Joe Cocker, Hanne Haller, Jennifer Rush, die eine Santana-LP, die jeder hatte, „No Milk Today“ und „(I Can’t Get No) Satisfaction“. In der Schule lungerten wir in einem Aufenthaltsraum mit Kassettenrekorder am Fenster, auf dem wir in der Freistunde Sachen wie Rage und Warlock hörten. Ein etwas suspekter Mitschüler war Fan der Gruppe Vorkriegsjugend, spielte aber ständig ein Tape ab, auf dem Springsteens Überlebenshymne „Born To Run“ zu hören war. Ich durfte an den Anfang zurückspulen, ohne verprügelt zu werden. „Ist Springsteen, weißte Bescheid, ne?“
Mit einigen Monaten Verspätung wurde mir „Born In The U.S.A.“ geschenkt, die ich so lange hörte, bis „Tunnel Of Love“ erschien, ein einziger Trennungsschmerz, den ich damals noch nicht verstehen konnte. Ich wechselte die Schule, im örtlichen CD-Verleih gab es „Lucky Town“ und „Human Touch“, jetzt hörte ich auch die älteren Springsteen-Alben, besuchte aber weiter Konzerte von Sting, Bon Jovi und Tom Gerhardt, die seien doch „genauso gut“, sagte mir ein Mädchen auf der Abschlussfahrt. Dann zog ich wieder um und studierte ein bisschen. Als Student mochte man die Pixies, The Smiths, Element Of Crime und ab 1995 Tocotronic. Bruce Springsteen galt als Stadionrock. Warum er viel später doch noch cool wurde, war damals noch nicht bekannt.
„In der ersten eigenen Wohnung beschloss ich, mich in den nächsten Jahren ausschließlich (!) mit Bruce Springsteen zu beschäftigen“
Und Bruce verließ mich nie: Die erste Freundin liebte „The Ghost Of Tom Joad“ und „Nebraska“, der Vater eines Freundes verehrte Springsteen und erzählte von überwältigenden, lebensverändernden Marathonkonzerten in Köln oder London. So lernte ich die einzelnen Mitglieder der E Street Band aus Erzählungen kennen: Den begnadeten Witzbold und Teufelsgitarristen Little Steven, die Maschine Max Weinberg, den strahlenden, furchteinflößenden, lange Schatten werfenden Clarence Clemons, und die anderen. In der ersten eigenen Wohnung beschloss ich, vor dem Plattenregal stehend, mich in den nächsten Jahren ausschließlich (!) mit Bruce Springsteen zu beschäftigen. Eine Schnapsidee, doch die hielt mich bei Laune: Durch „State Trooper“ lernte ich Suicide kennen, durch „Out In The Street“ das seltsame Gefühl, aus dem Haus gehen zu wollen. Die köstliche Lester-Bangs-Kritik zu „Greetings From Asbury Park, N.J.“ brachte mich dazu, endlich wieder ein paar Bücher zu lesen. Und ausgerechnet mit „My Hometown“ zeigte Bruce mir unabsichtlich, dass ich mich außerhalb von Nordamerika nirgendwo wirklich zu Hause fühlen würde.
Die Konzerte mit der E Street Band wurden zu heiligen Messen: Ich fuhr nach München, Frankfurt oder Leipzig, ich flog nach New Jersey, nur um dort beglückt zu erfahren, dass andere Springsteen-Fans noch viel weiter gereist sind, noch viel mehr Konzerte gesehen hatten, all die Bootlegs besitzen, und das Geld, sich ein so erlesenes Vergnügen auch leisten zu können.
An den emotionalen Vermessungen und wissenschaftlichen Erklärungsversuchen rund um die „Projektionsfläche“ Bruce Springsteen nehme ich nicht teil: Wie soll man einem Außenstehenden erklären, dass man heulen muss, wenn man die ersten Sekunden von „New York City Serenade“ oder „Jungleland“ hört? Dass sich ein Lächeln in den Himmel malt, wenn Bruce „Glory Days“ oder „Ain’t Good Enough For You“ singt? Dass man sich wünscht, man selbst wäre der Typ aus „Thunder Road“ oder wenigstens ein Held der Arbeit, der sich in „Working On The Highway“ den Schmutz von den Klamotten kratzt? Wer die fantastische Fan-Dokumentation „Springsteen & I“ gesehen hat, weiß, dass man sich nicht einmal deshalb bewegt fühlt, weil Bruce das eigene Leben berührt. Man ist ergriffen, weil Springsteen das Leben der Anderen berührt. Welche Empfindung wäre menschlicher?