Rolling Stone Weekender: So war der Freitag
Der erste Tag des Rolling Stone Weekender liegt hinter uns und war bei aller Unbescheidenheit nicht arm an Höhepunkten. So spielten Tocotronic neues von ihrem kommenden Album und Van Dyke Parks erinnerte sich an seine Zeit als Teil der "Generation Brunette".
Es ist ein vertrautes Bild: Familien oder mit Bierkisten bepackte Weekender-Besuchergruppen streifen am frühen Nachmittag durch das Straßengewirr der Ferienanlage Weissenhäuser Strand. Meist umklammert einer von ihnen einen Geländeplan, schaut drauf, kneift die Augen zusammen, schaut in die Runde und wird auch nicht klüger. Eine Frau fragt den Autoren dieser Zeilen: „Können Sie mir vielleicht helfen, diesen Code zu knacken?“ Aber da hilft nur Ehrlichkeit: „Entschuldigung, ich bin zum dritten Mal hier, aber ich weiß immer noch nicht, warum hier X nach O kommt, nach welchem System die Häuser beschriftet sind – und ob das alles überhaupt Sinn macht.“ Den blöden Witz, dass man zuerst Passierschein A38 braucht, verkneif ich mir dann lieber – man kann ja nicht davon ausgehen, dass jeder „Asterix erobert Rom“ gesehen hat. Und so ganz sicher bin ich mir auch nicht, ob mir Passierschein A38 auf der Suche nach Appartment 1170 im Gebäude X tatsächlich geholfen hätte.
Keine Frage: Das Beziehen und Finden der Zimmer ist so etwas wie die Feuertaufe unseres Hausfestivals – aber irgendwie will man es auch nicht missen. Denn man weiß ja, was dann kommt: Bier kaltstellen, Verpflegung kaufen beim „Edeka Jens“ – und dann der obligatorische Gang ans Meer. Die Seebrücke entlang, die zerfledderten Fahnen, die löcherig und schlaff im Wind hängen, begutachten – und einmal melancholisch raus auf’s nebelbehangene Meer blicken. In diesem Jahr war das die beste Einstimmung, denn immerhin wurde man ja schon beim ersten Act – den Tindersticks – mit den ganz großen Gefühlen konfrontiert. Die betraten pünktlich um 17 Uhr 15 die große Bühne des angenehm vorgewärmten Zelts und hatten keine Mühe, das Publikum in ihren Bann zu ziehen. Schon auf ihrer letzten Tour zu „The Something Rain“ präsentierten sie sich als ebenso perfekt gekleidete wie eingespielte Band. Und Stuart A. Staples hatte einen schon mit dem ersten Song: „If you’re looking for a way out /I won’t stand in your way / If you’re looking for a way out / Don’t stop at the tears that I’m crying / They’ll only make you wanna stay / Don’t kiss me again cos I’m trying / To keep you from running away.“ Ach, Stuart – wer will denn hier raus?
Wer also gezweifelt hatte, ob die Tindersticks den richtigen Slot hatten, wurde eines besseren belehrt: Ihr Set funktionierte an einem nebelverhangenen Nachmittag ebenso wie bei einem mitternächtlichen Headlinergig. Nach ein paar Akkorden schaut man eh nur noch mit Tunnelblick auf diese Band. Und wer sich schon immer gefragt haben sollte, was ein Stuart A. Staples nach der Show macht: Duschen scheint er nicht nötig zu haben – er ging kurz nach dem letzten Song eilig in den Baltic Festsaal zu Poliça und sah dabei dermaßen frisch aus, als hätte er sich gerade erst fein gemacht.
Das Staples damit wieder mal Geschmack beweist, ist eh klar: Die Band um Channy Leaneagh und Ryan Olson war die reinste Bereicherung für das Weekender-Line-up. Diese spezielle Aura von Miss Leaneagh, die in ihren Songs eine wahnsinnige Kraft ausstrahlt, aber kaum dass der letzte Bass verklingt, fast schüchtern zu Boden blickt, macht einen ganz kirre – von ihrer wandlungsreichen Stimme ganz zu schweigen. Und dann dieses kräftige Rückrat ihrer Musik, diese brummenden Bassmelodien, dieses wuchtige, punktgenaue Drumming, das Scheppern der Becken – man vergaß völlig, sich über die Tatsache aufzuregen, dass man im Baltic Festsaal den schön-scheußlichen Teppich gegen ein seelenloses Laminat ausgetauscht hatte. Bevor Poliça die Bühne betraten, gab es dann noch mal einen kleinen Moment der Beklemmung, als der DJ leise im Hintergrund „Kirschen“ von Nils Koppruch anspielte. Manch einer verstummte beim Biergespräch, lauschte und machte sich bewusst, dass man eigentlich gerne Kid Kopphausen gesehen hätte. Und ich erinnerte mich an unser schönes Videointerview mit Kid Kopphausen, nachdem Kopphausen erzählte, wie sehr er sich auf Calexico freute.
Kettcar hatten wenig später im Zelt leider keinen perfekten Start, da Marcus Wiebusch‘ Mikro erst auf halber Strecke von „Rettung“ angeschaltet wurde. Wiebsuch kommentierte trocken: „Na, das hat ja schon mal gut geklappt.“ Aber dann kam das vertraute „Der Name dieser Band ist Kettcar“ – und im Anschluss „Kein Außen mehr“ mit dieser an Diederichsen angelehnten Zeile „Authentisch war schon Hitler“ Die schönste Ansage von Wiebusch kam dann vor Graceland: „Wir sind ja schon eine Weile auf Tour. Da ist es schön, hier endlich mal wieder vor einem Publikum zu spielen, dass das 25. Lebensjahr schon hinter sich hat. Und für die jüngeren: Dieser Song ist für euch in zehn Jahren, wenn ihr meint Chucks anziehen müssen, um euch jugendlich zu kodieren.“ Das kam natürlich vor „Graceland“. Ein schön gemischtes Set der Hamburger Herren war das – die überhaupt recht entspannt unterwegs waren, weil sie mit ihrer Family angereist waren und sich ein schönes Wochenende am Weissenhäuser Strand machen wollten. Während der Show schnappte ich dann auch einen der schönsten O-Tone des Tages auf. Vier Mädels aus dem Umkreis plapperten zwischen den Songs über das Festival: Die vermutlich Jüngste und auf jeden Fall Hübscheste sagte: „Ist eigentlich ganz gut, dass die Rolling Stones das Festival veranstalten. Das spricht ja eher die älteren Herren an und die graben nicht so.“
Während We Invented Paris im Witthüs Teile ihrer Show im Publikum sitzend zelebrierten, konnte man im Baltic Festsaal einen der heutzutage seltenen Gigs des großen Van Dyke Parks bestaunen. Wobei es eher ein Lauschen denn ein Schauen war, da Parks am linken Bühnenrand an seinem Klavier saß und man eine Weile suchen musste, bis man seinen weißen Haarschopf erspähte. Der übrigens nicht immer weiß war, wie Parks dem Publikum verriet: „I keep telling my children that I was once part of the Generation Brunette.“ Vor seinem letzten Song griff er das Thema noch mal auf: „I’m 69 years old – and this is my solo song. I wrote it when I was 23. And brunette.“ Van Dyke Parks‘ Auftritt war eine wundersame Angelegenheit. Klavier, Harfe und Kontrabass auf der Bühne und dieses kleine, weißhaarige Genie mit den großen Songs, das man erst nach einigen Minuten am Bühnenrand fand. Sich reckende Hälse mit wippenden Köpfen und seligem Lächeln sieht man halt nicht so oft in dieser Kombination. „Er ist schon sehr eigen“, kommentierte jemand zu meiner Linken, bevor Parks wie zur Bestätigung dem Publikum zurief: „Hello, young moderns!“ Einziges Manko: Das alles war viel zu früh vorbei! Man hätte ihm gerne noch ein paar Stunden länger beim Plaudern und Musizieren zugehört.
Weiter ging es mit Natasha Khan alias Bat For Lashes auf der Hauptbühne. Man muss ja mögen, wie sie ihre Songs und ihre grandiose Stimme manchmal in kitschigen Ethno-Pop-Tand kleidet, den ihre Songs gar nicht nötig haben, aber ihre Bühnenpräsenz bezirzt Männlein und Weiblein gleichermaßen, so dass man da gerne drüber hinwegsieht. In weißem Kleid schritt und glitt sie über die Bühne, akzentuierte ihren Gesang mit wehenden Armen und bewies ein Gespür für den großen Bühnenmoment, den man sonst eher aus Theaterproduktionen kennt. Beispiel gefällig? Gleich im Eröffnungsstück der Show, „Lilies“ war so ein Moment: Als sie die Stimme anhob zur Zeile „Thank god I’m alive“, durchschießen sie die Scheinwerfer full on, während sie mit einem Drumstick in der Hand den Arm gen Bühnendecke reckt. Das war schon ganz schön wow. Dennoch: Einer der musikalischen ruhigsten Songs blieb der eindringlichste: Nur vom Piaono begleitet sang sie „Laura“, badete wieder im Scheinwerferstrahl und ballte bei der Zeile „Shall we dance upon the tables again“ wie in Zeitlupe ihre Faust. Nach „Laura“ brandete lauter Jubel auf, fast als wolle ihr das Publikum mitteilen, dass man sich mehr von dieser Bat For Lashes wünschte. Nicht jeder Song hielt dieses Level, aber dass der Autor dieser Zeilen auch das verzieh, dürfte klar sein – denn wie so oft beendete sie das Konzert mit „Daniel“, jenem Song, mit dem ich immer wieder gerne ein Mixtape „signiere“. Mit dem besungenen Daniel habe ich übrigens nix gemein. Ich habe Miss Khan nur einmal beim Hurricane getroffen – und ihr mitnichten das Herz gebrochen.
Tocotronic besorgten dann den letzen Live-Auftritt des Abends und zeigten auf der Bühne die gleiche Leidenschaft, die sie schon bei den letzten Festivalgigs an den Tag legten. Nach Sabbat-Jahr und erfolgreichem Abschluss der Arbeiten am neuen Album „Wie wir leben wollen“ hat man augenscheinlich wieder Bock. Das versichterten Rick McPhail und Dirk von Lowtzow auch im Interview kurz vor der Show. Und versprachen schon da, neues Material zu spielen. So gab es dann später „Ich will für dich nüchtern bleiben“ – ein raues Liebeslied für die Generation Berufsalkoholiker, was bitte als augenzwinkernde Einschätzung zu verstehen ist. Im Hintergrund wurde dabei passenderweise eine Hand mit dem Straight Edge-X eingeblendet. Ob das Stück repräsentativ für die 70 Minuten und 17 Songs währende CD ist, dürfte eher bezweifelt werden, denn von Lowtzow sagte im Interview, man habe sich dem kunstvoll, verzierten, opulenten, bisweilen psychedelisch entfremdeten Pop verschrieben. Wir sind sehr gespannt! Bisweilen ließen wir uns aber auch gut vom Best of 20 Years of Tocotronic unterhalten und erfreuten uns an Songs wie „Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit“ und „Let There Be Rock“ und „Aber hier Leben nein Danke“ und „Mein Ruin“ und und und.
Hach, ein schöner erster Tag war das. Kann man mal so sagen. Ärgerlich zwar, dass man sich auf dem Weg zu Spiritualized in der Galerie verquasselt hat und erst nach dem Gig von Reignwolf erfahren hat, wie gut diese Band ist – aber so was passiert wohl jedem hier. Und mir heute auch wieder…
Übrigens kann man sich die Konzerte des ROLLING STONE Weekenders im WDR ansehen:
Sonntag auf Montag, 09.12.2012 ab 00:15 Uhr Rockpalast Rolling Stone Weekender 2012 (1/2)
Sonntag auf Montag, 16.12.2012, ab 01:05 Uhr Rockpalast Rolling Stone Weekender 2012 (2/2)