ROLLING STONE Weekender, Freitag-Review: Soul-Beschwörungen und karibischer Rock’n’Roll

Rückblick ROLLING STONE Weekender: Jochen Distelmeyer, Glen Hansard, Steve Gunn, Rostam, Hurray for the Riff Raff und viele mehr – die Auftritte

Jochen Distelmeyer

Die meterhohen Marshall-Verstärker sind nur gemalt, als der Mann, der einst mit seiner Band Blumfeld die Neunziger-Hymne „Verstärker“ sang, die Bühne betritt. Statt einer Band hat Jochen Distelmeyer einen Keyboarder an seiner Seite. Statt eigener Lieder singt er die anderer Leute.

Von Aztec Camera etwa, von den Bee Gees oder von Britney Spears. Zwischen den Liedern macht er launige Ansagen über Masturbationsfantasien und seine Sexyness und lehrt die Menge, den „coolsten Bandnamen der Welt“, nämlich „Supertramp“, sexier und „aus der Hüfte raus“ zu skandieren. Man müsse ja was lernen bei seinen Konzerten, schließlich sei er Teil der Hamburger Schule gewesen.

Jochen Distelmeyer

Er ist nicht mehr die „Stimme einer Generation“, sondern ein Alleinunterhalter. Aber was für einer! Als Zugabe singt der beste Sänger seiner Generation doch noch „Tausend Tränen tief“, „Wir sind frei“ und Michael Girkes, durch Blumfeld geadeltes „Kommst du mit in den Alltag“ (mit einem Ausflug in Bob Dylans „You’re A Big Girl Now“). Dann beschließt er den Abend mit John Lennons „Free As A Bird“, das die Beatles anderthalb Jahrtzehnte nach dessen Tod präparierten. Es ist rührend und sehr unterhaltsam, wie Distelmeyer sich mit Selbstironie gegen den eigenen Klassikerstatus wehrt.

Maik Brüggemeyer

Rostam

Rostam

Zwei Stunden vor Jochen Distelmeyer stand noch ein etwas unsicher, aber auch zuversichtlich wirkender Sänger auf der Bühne des Baltic Saal. Ob Rostam Batmanglij eines Tages zu Vampire Weekend, einer der prägendsten US-Bands der letzten zehn Jahre, zurückkehren wird? Vielleicht nicht. Dafür bringt Ezra Koenigs Arrangeur nun als Solokünstler jene Musik auf die Bühne, die bei seiner ehemaligen Gruppe live in der Regel nur vom Band kam. Längst überfällig: Ein Streichquartett (Hipsterbärte an den Geigen!) verwirklicht greifbar, sichtbar, hörbar jenes Urban-plus-Klassikfetzen-Feeling, das Vampire Weekend überhaupt erst so groß gemacht hat. Dazu die VW-typischen sumpfigen, abgedumpften Tribal-Drumklänge, die eine Ahnung vermittelten, dass die New Yorker ihre Stadt auch als Dschungel sehen.

Also alles fast beim Alten – was mehr als ausreichend ist: „Wood“ und „Bike Dream“ vom aktuellen Album „Half-Light“ gehen bereits in die Richtung der früheren Gefährten; sie knüpfen am auch hier dargebotenen „Young Lion“ aus dem letzten Vampire-Weekend-Werk „Modern Vampires Of The City“ an, einem der wenigen früheren Songs mit Rostam als Leadsänger.

Das neue „Gwan“ zeigt die große Richtung an, die der 34-Jährige einschlagen könnte: Pop verwoben mit traditioneller Musik; das Stück findet sein Finale ineiner Streicherinterpretation des walisischen – und wunderschönen – Wiegenlieds „Suo Gân“ aus dem 19. Jahrhundert. Vielleicht der beste Anfang, den der Weekender am Freitag bieten kann.

Sassan Niasseri

Lee Fields & The Expressions

Mit Lee Fields stand am Freitag erstmals ein Soul Man auf einer Weekender-Bühne. Und gleich einer der besten. „Little JB“ wird der 65-Jährige mitunter genannt, so wie der „große“ James Brown. Was ein bisschen ungerecht ist, weil der Spitzname Fields auf nur einen Aspekt seiner Kunst reduziert. Denn Fields hat seine Stärken ganz klar auch in der Ballade; seine angeraute, gleichwohl seidige Stimme, seine erzählerischen Songs zwischen der funky Grandezza von „Ladies“ bis zu dem mitternächtlichen Schmelz von „Special Night“ sind elegant und selten verschwitzt.

Der Mann aus North Carolina trat in einem herrlich blau schimmernden Pailletten-Sakko auf, begleitet von seiner routinierten achtköpfigen Backingband umarmte er das Publikum. Erstaunlich wie das in Soul Allnightern vermutlich eher ungeübte Publikum den Kommandos des Entertainers folgte, die Arme durch die Luft schwenkte und die vorgegebenen „Uhhuhhyeas“ nachsang.

Seligmachende Momente im Zelt. Soul und Funk beim Weekender, das funktioniert.

Sebastian Zabel

Hurray for the Riff Raff

Alynda Lee Segarra von Hurray For The Riff Raff

Das Witthüs ist so voll, dass der bei den ersten Klängen des Konzertes eintreffende Rezensent nur einen Platz ganz hinten bekommt und die Band zunächst nur auf der Flachbildschirm-Simultanübertragung sehen kann. Zu Recht ist es hier voll: Das Album „The Navigator” von zählt zu den besten des Jahres, der karibische Rock’n’Roll der Band ist tolle Tanz- und eben auch Live-Musik.

Die Instrumentierung – zwei Gitarren, Keyboard mit Orgelsound, Bass, Schlagzeug– ist im Vergleich zum Album recht orthodox; Frontfrau Alynda Segarra und ihre Kollegen spielen tight, haben die neuen Lieder offenkundig bereits etliche Male gespielt, eine gewisse Unbeschwertheit und Leichtigkeit konnten sie sich bewahren. Sie sagt die Worte, die niemand bei einem Konzert hören will („This is a brand new one”), aber das dann folgende Lied ist so gut wie der Rest.

Die Scheinwerfer sind grell und in Polizeiverhör-Manier auf Segarra gerichtet. Sie bittet mehrfach vergeblich darum, die Lichter zu dimmen. Auch die Ansagen gehen hier nicht immer auf. Das mitreißende Stück „Hungry Ghost” widmet sie nicht ohne Pathos „allen Queeren auf der Welt”. Auf Segarras abschließenden Schlachtruf „Pa’lante” erwidert jemand: „Jawoll!”.

Jan Jekal

Steve Gunn And The Outliners

Steve Gunn and the Outliners

Wer sein Konzert mit einem Gitarrensolo startet, ist entweder verdammt wenig an gewöhnlichen Songstrukturen interessiert. Oder er versteht einfach sein Handwerk. Bei Steve Gunn, dem ehemaligen Gitarristen aus Kurt Viles Backing-Band The Violators, gilt beides. Seit Jahren legt er ein spannendes Album nach dem nächsten vor – jeweils geprägt von geradezu unanständig inspirierenden Gitarrenexperimenten.

Im Baltic Saal kommt der in Brooklyn musikalisch sozialisierte Gunn sofort zur Sache, allerdings erst einmal im Alleingang. Mit „Old Strange“ beschwört er gleichsam J.J. Cale und La Monte Young. Doch schon zum zweiten Track des Abends, dem fiebrig-verspielten, an Grateful Dead erinnernden „Way Out Weather“, kommen die fabelhaft eingespielten Outliners auf die Bühne. Bis auf das eine oder andere Lächeln, das während des Gigs über ihre Gesichter huscht, brauchen die vier Musiker nicht viele Worte, um ihre Klangkunst für etwas mehr als eine Stunde zum Leben zu erwecken.

Gunn, physiognomisch eine Mischung aus dem jungen Lou Reed und Televisions Tom Verlaine, wirkt für die Dauer des Auftritts aufreizend konzentriert. Lässt er sich zunächst noch zu einigen wenigen Ansagen hinreißen, mit denen die Zuschauer die einzelnen Gitarrenlehrstunden noch unterscheiden können, verschwimmen die ausufernden Jams spätestens mit dem elysischen „Milly’s Garden“ in einem einzigen Sog. In dem lässt sich auch anhand der zuweilen rätselhaften, versponnen Lyrics Gunns heraushören, dass es um (Seelen-)Reisen, Einsamkeit, Selbst- und Fremderkundungen geht.

Größtenteils spielen, nein: improvisieren die Musiker Songs des auch literarisch ambitionierten Albums „Eyes On The Line“ von 2014. Steve Gunn scheint uns sagen zu wollen: Alles könnte viel einfacher sein, wenn wir es nur wollten. Das gilt allerdings ganz bestimmt nicht für seine komplexen Fingerfertigkeiten. Zum Abschluss steht der Musiker noch einmal alleine auf der Bühne (seine Kollegen trinken derweil schon einmal ein Bier). Als Rausschmeißer gibt es das düstere, gesellschaftskritische, selten gespielte „Mr. Franklin“ zu hören. Zum Nachdenken, zum Niederknien.

Marc Vetter

Glen Hansard

Glen Hansard

Er beginnt behutsam, steigert dann die Innigkeit und verwandelt das Konzert schliesslich in einen hymnischen, ekastatischen, redundanten Reigen. Glen Hansard ist ein Gewährsmann der klassischen Dramaturgie: schratig und struppig wie der mittlere Reinhold Messner erklärt er, dass die Tournee gerade beginne und sie noch „rusty“ seien, sie seien gerade eingetroffen und müssten dann gleich wieder aufbrechen, gern würden sie ein paar „jevers“ trinken.

Natürlich sind Hansard und seine Band überhaupt nicht eingerostet: drei Bläser tröten markig in die Rhapsodien, die nach dem Prinzip der Eskalation immer zur Entäusserung, zur Entgrenzung streben. Wie früher Van Morrison, wie Bruce Springsteen in den 70er-Jahren setzt Hansard die gefühlige folkloristische Ballade neben ausufernde Soul-Beschwörungen. Das emotionsselige Pathos, das Tautologische mäandern ins Mantrahafte beherrscht Hansard wie Damien Rice: Verführung durch Überwältigung.

Es ist eine Kunst des Effekts und der grossen Geste, zugleich outriert und kontrolliert. Die Bläser sind den Songs eigentlich äusserlich, fast gewaltsam brassbramsig, aber entfalten enorme Wirkung in einer Rock’n’Soul-Revue und Entfesselungsnummer. Schon bei „Once“, auch mit seiner Band The Frames, ging Glen Hansard den Herzweg und setzte auf das Sentiment noch Pathos und noch eine Anrufung und noch einen Schrei nach Liebe und noch eine Leise-Laut-Schraube.

Ein Lied von Woody Guthrie, „Vigilante Man“, ist der pflichtschuldige Rückgriff auf die Folk-Tradition. Auf der Ukulele spielt Hansard die kleine Münze, um dann mit der grossen Umarmungskelle von acht Musikern die charismatische Messe zu feiern. Und das geschieht nach Mitternacht, das Publikum ist enthusiasmiert, das Zelt bebt, alles überschlägt sich, da braucht es kein Bier mehr, so trunken, so hemmungslos, so Deichbruch.

Der kann das, der Schlingel.

Arne Willander

Birth Of Joy

Birth Of Joy

Der diesjährige Weekender wurde eröffnet, als sei 1974 – und die jungen Deep Purple auferstanden. Ein Trio aus den Niederlanden rockte – und hier darf man nicht nur, sondern muss das so sagen – das Zelt am Weissenhäuser Strand.

Birth Of Joy stammen aus Utrecht, seit zwölf Jahren spielen sie schon zusammen und Gertjan Gutman haut in die Orgel, als sei sie eben erst für die Rockmusik entdeckt worden. Ein leidenschaftliches Gebrause, grundiert in Bluesrock. Und nicht nur, dass Sänger Kevin Stunnenberg immer wieder den erdigen Jam durch Gitarrensoli dehnt und garniert, es gibt sogar ein echtes, angekündigtes, mit Applaus bedachtes Schlagzeugsolo, nicht ganz so lang und fulminant wie seinerzeit bei „Radar Love“, aber Golden Earring sind eine passende Assoziation. Ein Schlagzeugsolo! Lange nicht gehabt.

Sebastian Zabel

"Julia SchwendnerThisIsJulia Photography" FKP Scorpio
Julia SchwendnerThisIsJulia Pho FKP Scorpio
Sarrah Danziger Sarrah Danziger
"Julia Schwendner ThisIsJulia Photography"
Martin von den Driesch
"Julia Schwendner ThisIsJulia Photography"
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