ROLLING STONE Weekender, der Samstag: Anna Calvi, Element of Crime, Motorpsycho und mehr

Der Samstag des Weekender-Jubiläums endet mit großen Auftritten. Die Rezensionen zum Festival-Abschluss.

Element of Crime – Wenn Steine weinen

Element of Crime

Es kann kaum einen besseren Abschluss für den ROLLING-STONE-Weekender geben als Element Of Crime, aber bescheidenerweise wies Sven Regener noch einmal darauf hin, dass sie eigentlich „reingeschummelt“ wurden – im letzten Moment, weil Ryan Adams abgesagt hatte.

Die Traurigkeit darüber war sehr schnell vergessen – ungefähr nach drei Takten von „Am ersten Sonntag nach dem Weltuntergang“. Und es war sofort klar, dass es jetzt nicht nur mehr vom Altbekannten gibt, so leicht machen sie es sich nicht. Welche Band traut sich schon, drei Viertel des neuen Albums zu spielen, obwohl sie sich auf genügend Klassikern ausruhen könnte? Wie herrlich, „Bevor ich dich traf“ und „Gewitter“ zu hören, aber natürlich auch „Bring den Vorschlaghammer mit“ und „Am Ende denk ich immer nur an dich“. Und sicher passt „Schwere See“ ein bisschen besser zum Weissenhäuser Strand als „Wenn es dunkel und kalt wird in Berlin“, doch wenn einer überall Steine zum Weinen bringen kann, dann ja wohl Sven Regener.

Ohne „Weißes Papier“ geht es einfach nicht, die „Straßenbahn des Todes“ fährt einem allerdings auch wieder direkt ins Herz. Auf längere Ansagen verzichtet der Sänger diesmal, 90 Minuten sind kurz genug, wenn man so viel tolle Musik hat – und eine Band, die sich immer in den Dienst dieser Lieder stellt, weil sie es einfach nicht nötig hat anzugeben.

Selbst der Scheinwerferkegel, der manchmal auf Gitarrist Jakob Ilja fällt, wirkt unprätentiös. Hier strahlen nur die Songs.

Birgit Fuß

The Breeders – Rauchende Colts

The Breeders

Nein, die furchteinflößende Titelmelodie von John Carpenters „Halloween“ spielten die Breeders, in ihrer Hardrock-Version, beim Weekender leider nicht – das Coverstück gehört ja mittlerweile zu ihrem Live-Repertoire. Aber es bleibt auch so Raum für Gewaltfantasien. Kim Deal intoniert „Happiness is a Warm Gun“ der Beatles, jener Klassiker, der sich, je nach Sichtweise, um einen Waffenliebhaber dreht oder einen sexuell extrem aufgeladenen Menschen. Ein bisschen mehr „Bang Bang Shoot Shoot“ hätte Deal vielleicht bringen können, aber ihre Fassung jenes Song-Dokumentes über das unfassbare Jahr 1968 ist auch so ein Ereignis.

Breeders-Auftritte leben ja immer von Stimmspielereien, komödiantischer Vokalakrobatik, und das zeigt sich in den neuen Songs des Albums „All Nerve“ genauso wie in den Klassikern der Ende der 1980-Jahre gegründeten Band. „Cannonball“ von 1993 war ihr größter Hit und erfolgreicher als jede Single derjenigen Gruppe, mit der Kim Deal eigentlich populär wurde, den Pixies. „Cannonball“ ist auch 25 Jahre später ein Wunderwerk aus Versatzstücken, von denen man nie glaubt, dass sie so gut zusammenpassen dürften: eine wie betrunken laufende Basslinie (dessen Melodie bis heute keiner kopiert hat) und jener verstörende Weckruf Deals, der an die Gesänge der Ewoks genauso erinnert wie an die der Palastwachen aus dem „Wizard of Oz“.

Kim Deal ist nicht mehr Bassistin wie bei den Pixies, sie spielt jetzt, wie ihre Schwester Kelley, Gitarre (Kims Mikroständer ist auch deutlich dichter am Ständer Kelleys platziert als an dem des zusätzlichen Saitenmanns Jim McPherson – sie sucht die Nähe zu ihrer eineiigen Zwillingsschwester). Aber sie verleugnet die Geschichte nicht. Die Breeders spielen die Pixies-Hymne „Gigantic“, eine der wenigen Kompositionen, die Deal damals bei Black Francis durchbrachte, und die heute noch jeder „Indie-Fan“ kennt.

In dem Song geht’s um große Penisse, und Kim Deal lacht beim Singen darüber noch immer.

Sassan Niasseri

Anna Calvi – des Wahnsinns schöne Beute

Anna Calvi

Der Andrang vor dem Baltic-Saal bedeutet unmissverständlich: Man muss Anna Calvi gesehen haben. Die Emotionskunst, hier wird sie Ereignis. Alles bei Anna Calvi ist Ausdruck: Sie spielt ihre Gitarre fast gewaltsam. Sie schmettert, sie jodelt, sie wispert, sie schreit. Sie steht vorn an der Bühne, sie kann nicht anders. Ein Keyboarder und ein Schlagzeuger genügen ihr für den Drang und die Verzierungen ihrer Musik. Es ist eine merkwürdige Dichotomie von Intimität und Bombast, sengendem Bekenntnislied und greller Oper, getrieben von den Trommelschlägen und immer zum Hymnus strebend.

Anna Calvi schüttet sich aus. Es liegt in der Natur ihrer Sache, dass die Songs sich zwischen Aufbruch, Ausbruch und Auflösung bewegen, ein Countdown zur Ekstase. Es gibt Gitarrensoli, aber es gibt keine Kontemplation. Das Expressive erinnert an die Brutalität der jungen PJ Harvey und an Diamanda Galas, das schwelgerische Pathos der Selbstentäußerung und das Theatralische des Gesangs an Jeff Buckley: Das Virtuose der Darbietung ist nicht Reittier des Songs, sondern die Sache selbst. Anna Calvi ist umwerfend, aber sie lässt keinen Raum zum Atmen.

Sie spielt die Songs ihres neuen Albums, „Hunter“, dessen Voraussetzung und Pointe ist, dass sie sich als Mann imaginiert. Es sind galoppierende Jagdgesänge: des Wahnsinns schöne Beute. Ihrem Auftritt eignet eine gewisse anmutige Klotzigkeit, etwas fast sportiv Spektakuläres. Wie von einem Würgeengel gepiesackt, treibt Anna Calvi ihren Gesang und ihre Gitarre zu immer neuen Höhen, bis der Reigen in einer Kakophonie der Erschöpfung endet. Der rückhaltlosen Atemlosigkeit des Vortrags entspricht seine Knappheit: Nach einer Stunde verbeugt sich Anna Calvi, seltsam konventionell und artig. Keine Ansagen, keine Animation, keine Anbiederung.

Eine vulkanische Erscheinung.

Arne Willander

Car Seat Headrest – Rockgott auf Socken

Car Seat Headrest

An Gitarristen herrscht kein Mangel auf der Bühne. Gleich drei von ihnen spielen sich schon im Soundcheck Classic-Rock-Riffs zu. Dabei bestand Car Seat Headrest doch ursprünglich nur aus dem Songwriter Will Toledo, der seine Lieder auf dem Rücksitz eines Autos schreibt und probt. Aber er hat sich neben seiner Band noch Verstärkung von den Naked Giants geholt, die später im Witthues spielen.

Neben den vielen Gitarristen gibt es auch zwei Schlagzeuger. Der langgliedrige Toledo schlurft schließlich in Socken und einer Art schwarzem Schlafanzug auf die Bühne. Sein Gesicht  und seine Buddy-Holly-Brille unter seinem schwarzen Haarhelm versteckt.

Eindeutige Indizien: Was wir hier auf der Bühne passiert, ist eigentlich ein Traum im Kopf des Songwriters. Er wirft sich schlaksig in Rockstarposen, wiegt sich zum mächtigen Getöse seiner Musiker. „Oh god/ Give me Frank Ocean’s voice And James Brown’s stage presence/ I will be your rock god when you’re rolling the dice“, singt er in „Cute Things“, „Sober To Death“ geht in Neil Youngs „Powderfinger“ über, dann in Stevie Wonders „Don’t You Worry Bout A Thing“. Mit „Vincent“ und „Drunk Drivers/Killer Whales“ wird die Fantasie real, das Publikum frisst dem Rockgott auf Socken aus der Hand.

Am Ende spielen sie spontan „Bullet With Butterfly Wings“ von den Smashing Pumpkins. Get teenage kicks througout the night.

Maik Brüggemeyer

Motorpsycho – Bartok des Universums

Motorpsycho

Konzertvorbereitungen muss man sich bei Motorpsycho als eine lustige Sache vorstellen. Den Norwegern werden knapp 90 Minuten Spielzeit eingeräumt, sie treten vor den Headlinern Element of Crime in der Zeltbühne auf, aber das Quartett um Hans Magnus Ryan und Bent Sæther scheint keinen Druck gespürt, keine Zeit mit der Planung einer „Greatest-Hits-Setlist“ vergeudet zu haben. Sie bringen halt jeden Abend etwas anderes, die Live-Dramaturgien werden stets neu ausgewürfelt, und das deutsche Festivalpublikum kommt nun eben in den Genuss allerlei Obskuritäten. Die ersten drei Songs sind nach 22 Minuten beendet. Motorpsycho haben alle Zeit der Welt.

Ihren psychedelischen Rock zelebrieren die Trondheimer schon länger als Trondheim hip ist, seit 1989. Ihre Hochphase hatten Motorpsycho Mitte bis Ende der 1990er-Jahre, die Albenstrecke „Timothy’s Monster“, „Blissard“, „Angels and Daemons at Play“, „Trust us“ und „Let Them Eat Cake“ steht heute noch im Plattenschrank jedes wissbegierigen Zuschauers der MTV-Sendung „Alternative Nation“. Ihr 1996er-Song „S.T.G.“ erhält auch hier den größten Jubel.

Die Songtitel sind heute – „Bartok Of The Universe“ – so genial bescheuert wie damals, „Un chien d’espace“. Das letzte Motorpsycho-Album, „The Tower“ von 2017, ging aber leider etwas unter.

Die vier Musiker, denen stets die Haare ins Gesicht hängen, schert das wenig. Sie spielen die Songs ja in erster Linie für sich, aber es kann wunderschön sein, dieser Traumverlorenheit zuzusehen.

Sassan Niasseri

Sophia Kennedy – Zeitlosigkeit und Zeitgeist

Sophia Kennedy

Ein Konzert von Sophia Kennedy ist eine Inszenierung mit unglaublich viel Grazie. Statt mit opulenten musikalischen und ästhetischen Gesten zu spielen, nutzt die Sängerin geschickt die Reduktion. Es ist eine Show, in der die Künstlerin mit sämtlichen Erwartungen bricht.

Sie beginnt mit den klassischsten Pop-Songs ihres Albums: Dem Retro-Stück „William by the Windowsill“ folgt „Being Special“, bei beiden Titeln gibt das Klavier die Richtlinie. Im Verlauf des Sets taucht die 29-Jährige immer weiter und immer wieder in elektronische Klänge ein und mündet schließlich in „Kimono Hill“, mit Samples aus den verzerrten Backvocals – doch verliert ihre Stimme nicht das zeitlose Element, das ihre Musik so ungreifbar macht. Das Klavier vertritt dabei stets konventionelle Melodien, während Kennedy den Bass dazu nutzt, die aufgebauten Hörgewohnheiten zu entzerren.

Es ist erstaunlich, was für intensive Klangflächen die Wahlberlinerin gemeinsam mit ihrem Begleitmusiker Mense Reents erschafft. Mit längeren instrumentalen Strecken zeigt die aus Baltimore stammende Musikerin, dass es nicht immer auf ihre an Nico erinnernde Stimme ankommt und dass sie alles unter Kontrolle hat – stets freundlich cool bleibend. Diese entgleitet ihr zwar kurz, ein Keyboard fehlt, doch die beiden Klangkünstler mäandern umeinander rum und lösen das Missgeschick mit fast schon spielerischer Konzentration.

Abschließend kehrt Sophia Kennedy zurück zum Klavier und schließt den Pop-Kreis. Damit beweist sie ein weiteres Mal, dass sie eine wichtige und innovative Stimme im deutschen Pop bleiben wird.

Alena Struzh

Laura Gibson – über das Leben und Sterben

Laura Gibson

Die Bühne in der Alm, dieser „cosy cabin“, wie Laura Gibson sie nennt, ist  so klein, dass ihr und den drei Musikern, die sie sich von Dan Mangan ausgeliehen hat, hinter ihren Instrumenten wenig Raum zum Bewegen bleibt. Und trotzdem wirkt Gibson anfangs manchmal, als wisse sie nicht genau, wohin mit sich.

Dass sie erst in dieser Woche begonnen hat, die Songs von ihrem neuen, fantastischen Album „Goners“, live zu spielen, lässt sich kaum verbergen. Sie frickelt an ihrem Keyboard herum, sie fummelt an ihren Haaren und lächelt den Boden an – und dass sie ständig zwischen drei Mikrofonen wechselt, bringt auch nicht gerade Beruhigung. Erst als sie zu „Slow Joke Grin“ die Akustikgitarre nimmt, scheint sie ganz bei sich zu sein. Ihre zarten Folkpopsongs übers Leben und Sterben wirken plötzlich stark, sie scherzt zwischendurch mit dem Publikum und stört sich nicht mal am überlauten Walkie-Talkie eines Ordners: „Erinnert mich an die elektronischen Geisterstimmen auf meinem Album.“

Gegen Ende nimmt der Auftritt mit „Louis“ richtig Fahrt auf, und es passt perfekt, dass sie – bevor sie dann doch noch mal mit „Empire Builder“ zurückkommt – als Schlusspunkt „Not Harmless“ setzt: „It was the dark we called beautiful/ I’ll teach you to cry in a crowded room.“

Birgit Fuß

Martin von den Driesch
Martin von den Driesch
Martin von den Driesch
Kai Marks
Martin von den Driesch
Kai Marks
City Slang
Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates