ROLLING STONE Weekender: der Freitag – Einhörner des Glücks
Konfetti-Regen zum 10. Jubiläum des ROLLING STONE Weekender: Die Flaming Lips, Kettcar, The Wave Pictures und mehr eröffneten den Freitag.
The Flaming Lips: Das Einhorn des Glücks
Das Präludium ist „Also sprach Zarathustra“, die Ouvertüre der Ouvertüren schlechthin, und Wayne Coyne verkündet etwas, das zwar geografisch korrekt ist, aber nicht die poetische Wahrheit: „We are The Flaming Lips, and we come from Oklahoma.“ Dieses Oklahoma muss ein Ort wie Kansas in „The Wizard Of Oz“ sein: ein zauberhaftes Land, in dem Hollywood-Musical und Sechziger-Jahre-Pop, Prog-Rock und Psychedelik zu einem wohligen Wolkenkuckucksheim zusammenschießen. Bei dem elysischen Kitsch von „Race For The Price“ schweben Ballons durch das Zelt, und ein Konfettiregen flittert ins grelle Licht. Aufgeblasene goldene Gummilettern grüßen oberhalb der Bühne: „Fuck Yeah Weissenhäuser Strand“. Es sind sehr große Buchstaben, und es hat lange dauert, um sie aufzublasen, ruft Coyne stolz.
AmazonDer grau melierte Artist agiert mit dem erratischen Enthusiasmus eines Lausbuben. Bei „Yoshimi“ – rosafarbener Gummiroboter auf der Bühne – setzt er dreimal neu an und fordert das Publikum zum lauten Mitmachen auf. Zwei Schlagzeuger, der eine mit einem Kopfputz als Scheich verkleidet, und eine Art kirres Electric Light Orchestra reproduzieren stoisch die Kaskaden kunterbunten Glücks. Wayne Coyne reitet mit Engelsflügeln bei „There Should Be Unicorns“ auf einem drolligen Gummi-Einhorn durchs Publikum. „She Don’t Use Jelly“, so etwas wie der Hit der Flaming Lips, ist eine kürzere Angelegenheit.
Und dann wird er in eine transparente Riesenblase verpuppt: „Ground control to Major Tom.“ So purzelt er durch die Reihen, bis er sich aufrichtet, triumphal grüßt und in dem Kokon weitersingt. David Bowies „Space Oddity“ ist die Apotheose in diesem surrealistischen Weltraumtheater: ein Kinderfest der unschuldigen Imagination. „How?“ (nicht von John Lennon“), „Are You A Hypnotist??“ und „The W.A.N.D.“ mäandern durch das Zelt, bevor die Band abtritt. Und ein Gebilde aufgeblasen wird, das dann als Regenbogen erkennbar wird: Wayne Coyne bedankt sich dafür, dass sie das alles seit 30 Jahren machen dürfen: die Phantasie zum Schweben bringen. „Do You Realize??“ beschließt den Raumflug durchs Seifenblasenuniversum um Mitternacht. „What A Wonderful World“ ertönt vom Band. Die Flaming Lips sind die Lieblingsband von Miley Cyrus, die eine Platte mit ihnen aufgenommen hat.
Die Popmusik ist der zauberische Ort, an dem wir für immer Kinder sein dürfen.
Arne Willander
Kettcar: Das Ende der Ironie, der Anfang von etwas Schönerem
Ein paar Zeilen von „Trostbrücke Süd“, und schon ist man mittendrin im Kettcar-Gefühl. Das lässt sich schwer erklären, es hängt nicht nur an den Texten, die manchmal gnadenlos den deutschen Alltag beschreiben und dann wieder ganz liebevoll die menschlichen Schwächen.
Es liegt auch nicht nur an der Musik, diesem hymnischen Indie-Rock, dem sie im Laufe der Jahre die Turnschuhe aus- und die Kampfstiefel angezogen haben. Zumindest manchmal, denn obwohl die gesellschaftskritischen Songs vom letzten Album „Ich vs. wir“ den Kern bilden, gibt es natürlich „Rettung“, „48 Stunden“ und „Balu“ – im „Liebeslieder-Block, obwohl wir jetzt ja eine Polit-Punk-Band sind“, wie Marcus Wiebusch schmunzelnd bemerkt.
Reimer Bustorff erzählt von seiner Mutter und der Sorge, dass gleich alle zur Höchsten Eisenbahn abziehen werden, aber natürlich bleiben alle, und auch diese Mischung aus Spaß und Ernst, Lebensfreude und Reflexion macht Kettcar aus. Als Zugabe, vor „Landungsbrücken raus“, noch der wichtigste Song, „Den Revolver entsichern“, mit der so einfachen wie entscheidenden Bitte: „Von verbitterten Idioten nicht verbittern lassen.“
Zwischen den vielen Lautsprechern und Empörten stehen Kettcar für das Ende von Ironie und dem Anfang von was Schönerem, für Mitgefühl und Solidarität, auf die denkbar einfachste Weise: „Mach immer, was Dein Herz Dir sagt!“
Birgit Fuß
The Wave Pictures: Die größte kleine Band des Planeten
Die größte kleine Band des Festivals spielt logischerweise in der kleinen, groß klingenden Alm. Es ist der Erscheinungstag ihres neuen Albums „Look Inside Your Heart“ (das zweite in diesem Jahr), und Sänger und Gitarrist David Tattersall, der seine Band selbst als „the wonderful Wave Pictures“ ankündigt, erklärt den Weekender kurzerhand zur großen zweitägigen Release-Party – „die Flaming Lips haben gesagt, sie spielen gerne für uns“.
Zunächst aber spielen die Wave Pictures höchstselbst, beginnen mit „Roosevelt Sykes“, der famosen ersten Single ihres neuen Werks, das in der folgenden Stunde im Mittelpunkt stehen wird. Tattersall brilliert flink und gewitzt von Afrobeat bis Blues in jedem Stil, auch Bassist Franic Rozycki darf solieren, und Schlagzeuger Johnny Helm gibt schließlich vorn am Mikro den Crooner, singt mit „Now You’re Pregnant“ einen der besten Wave-Pictures-Songs überhaupt und zudem wild auf Tattersalls Licks tanzend Daniel Johnstons „Hoping“.
Da hat die Band die Alm längst mit Virtuosität und Charme erobert. Am Ende gibt’s den Oldie „Tiny Craters In The Sand“: „Give me your hand, I love your hand/ Build me a planet out of unachievable plan“. An diesem Abend ist für die größte kleine Band des Planeten jeder Plan erreichbar.
Maik Brüggemeyer
Die Höchste Eisenbahn – Gefühle, die man nicht zuordnen kann
Wenn es so etwas wie Euphoriedurst gibt, dann ist Die Höchste Eisenbahn derjenige Act beim Rolling Stone Weekender (aber auch bei jedem Festival), der dieses Bedürfnis zu stillen weiß. Die Popband hat sich inzwischen zum Live-Liebling entwickelt und genießt mit ihren feinen Lied-Erzählungen reihum Sympathie.
So ist es schön und schade zugleich, dass das Quartett im Baltic-Festsaal spielt – die Berliner füllen den Raum leicht mit neugierigem und mitsingendem Publikum. Die Band muss nicht um die Gunst der Zuschauer kämpfen, eher blicken sie in fröhliche Gesichter der Menschen, die die Texte stets auf Kommando mitsingen.
Die Geschichten und Arrangements, die auf Platte bereits rund und abgeschlossen scheinen, breiten die Sänger Moritz Krämer und Francesco Wilking live nochmals in Improvisationen aus. So nimmt die Ballade von „Isi“ und Robert immer ein anderes Ende – diesmal liegt der Geliebte im Sterben, dazu ein im Rock’n’Roll-Stil gehaltenes Gitarrensolo. Die Mitglieder quatschen sich mit Witz durchs Set, werden aber auch melancholisch, wenn sie Lieder wie „Lisbeth“ ankündigen: „Jetzt kommt ein Gefühl hoch, das man nicht zuordnen kann. Ein Gefühl der Traurigkeit vielleicht“. Es folgt jedoch ein liebevoller Song, bei welchem sich Paare umarmen und Freunde hoffnungsvolle Blicke austauschen.
Zwei neue Lieder spielen Die Höchste Eisenbahn, ein neues Album wird im nächsten Jahr kommen. Der ungewohnt schnelle Rhythmus und die fröhlichen Melodien offenbaren, dass die Berliner bereit sind für die Masse. Möglicherweise spielt die Band in einigen Jahren schon auf der Zeltbühne am Weißenhäuser Strand – es wäre ein Gewinn für alle.
Alena Struzh
Friends of Gas – Eingegroovtes Hippiekollektiv
Als bilde sie einen schamanischen Kreis steht die Band auf der Bühne, mit schwingenden Haaren und den Rücken zum Publikum. Nina Walser, ihre Sängerin, hat die Augen geschlossen. Ihre Stimme ist ein grauer Rauch, rachitisch, in hohen Tönen dräunend, ein beschwörendes Mantra. Wenn sie davon singt, was Liebe ist, dann zieht es bis in die Gedärme.
„Du bist mein ewiges Chaos“, singt sie, aber genau das ist es nicht, was die sechsköpfige Band aus München im Witthüs aufführt. Ihr emanzipatorischer Trance-Rock wirkt höchst konzentriert, er speist sich aus vielen Quellen und ist doch ganz eigen – die metallische Funkynesss der Gang Of Four, die weiche Rhythmik von Can, der Pulverdampf der Spacemen 3. Ein mahlender, mäandernder Sound, aufgeschreckt von Veronica Burnuthians schneidender Gitarre. Auf dem Korpus ihres Instruments klebt der Button „Geld“, manchmal lächelt sie und einmal lächelt Nina Walser zurück.
Aber eigentlich ist niemand hervorzuheben: Die Band spielt auf eine Art gemeinsam, die an ein blind aufeinander eingegroovtes Hippiekollektiv denken lässt. An Grateful Dead. Was mindestens so irritierend ist wie das T-Shirt des eifrigsten Tänzers in der Frontrow: „The Pink Floyd Exhibition“ steht darauf. Wie passt das zusammen? Sehr gut. Erol Dizdar, der unwahrscheinlich agile und präzise Drummer, trägt schließlich auch wieder sein gelbes Shirt mit dem selbstgemalten Schriftzug der Progrockband Yes.
Großartiges Konzert.
Sebastian Zabel
Father John Misty – Ideologie und Wahnsinn
Die Karriere von Josh Tillman alias Father John Misty konnte man in den vergangenen Jahren sehr gut beim ROLLING STONE Weekender mitverfolgen. Das erst Mal versetzte seine Band die kleine Scheune, die inzwischen Almbühne heißt, in einen Americana-Rausch. Der Baltic Festsaal schien nicht nur aufgrund seiner niedrigen Decke zu klein für den groß gewachsenen Songschreiber. Nun also die Zeltbühne, die für den nicht mit melodramatischen Gesten sparenden Westcoast-Elegiker gerade ausreichend Platz bietet.
Von hinten angestrahlt, lässt er keinen Moment aus, um seine schlaksige Figur im warmen Gegenlicht zu räkeln und theatralisch seine Hände durch die Luft zu wirbeln. Misty ist ein begnadeter Poseur und cleverer Schlawiner. Weil das ambitionierte „Pure Comedy“ 2017 so gut lief, schob er dieses Jahr gleich noch ein Album hinterher. Die Songs von „God‘s Favorite Customer“ fügen sich nahtlos ins weithin balladeske Œuvre, fallen aber auch nicht weiter auf. Es sind ältere Stücke wie „Hollywood Forever Cemetery Sings“ und „Chateau Lobby #4 (In C For Two Virgins)“, die schon dem nach Titel überwältigend prätentiös und ironisch gebrochen klingen. Kaputte Liebe, kalifornische Schwermut, religiöser Fanatismus, Ideologie und Wahnsinn sind darin aufgehoben.
Der Abglanz des Westens. „Pure Comedy“ am Ende demonstriert mit erschütternder Gleichmütigkeit, was an Mistys Kunst so fasziniert: Ein besseres Lied über den amerikanischen Albtraum wird man nirgends finden. Bei Father John Misty ist alles immer schon viel zu spät. Die menschliche Komödie nimmt unabänderlich ihren Lauf. Und er singt bis zum Tag des Jüngsten Gerichts.
Max Gösche
Cass McCombs – beseelter Americana-Trip
Cass McCombs ist einer jener Songschreiber, die in regelmäßigen Abständen tolle Platten veröffentlichen, aber hierzulande wenig bekannt sind. Am Tag vor seinem Weekender-Auftritt erklärte der Kalifornier noch bescheiden im ROLLING-STONE-Interview, dass er seit fast einem Jahr kein Konzert mehr gespielt habe. Zu spüren ist das kaum, auch wenn zu Beginn seine Gitarre nicht richtig gestimmt ist.
Doch spätestens bei „Bum Bum Bum“ stimmt alles. Es folgen mal stürmische, mal subtil vertrackte Fusionen aus Folk, Funk, Soul, Blues, Rock und Punk. McCombs und seine fantastische Band verwischen die Stilgrenzen mit konzentrierter Lässigkeit. Immer wenn man denkt, dass ein Song auseinanderfällt – vor allem Songs seines im Februar erscheinenden neuen Albums wirken stellenweise noch etwas holprig –, ziehen sie die Zügel wieder an, lassen Stücke wie „Medusa‘s Outhouse“ und „Cry“ in Jams ausufern, die den Geist der Grateful Dead anzapfen.
McCombs Gitarrenspiel erinnert dabei eher an Neil Young, seine Soli betten die zuweilen kryptisch anmutenden Texte, die sich irgendwo zwischen Psychotherapie, Vexierbild und großer amerikanischer Erzählung bewegen, in eine Form, die einen unwahrscheinlichen Sog entwickelt. Einen ähnlich beseelten Americana-Trip findet man sogar bei diesem Festival nur äußerst selten.
Max Gösche