ROLLING-STONE-Rückblick 2016: #Tod
Bowie, Prince, Cohen: Auf Facebook und Twitter wird die Trauer zur Routine. #Schlussdamit!
Nicht noch einer! R.I.P. #scheiß2016. was ist das für 1 Jahr? Verdammt. Oh no! Weinender Smiley. Falls Sie – wie etwa 28 Millionen Deutsche – Facebook nutzen oder – wie etwa zwölf Millionen – Twitter, haben Sie diese Sätze 2016 vermutlich sehr häufig gelesen.
Wobei es für Sätze ja oft gar nicht mehr reicht: In der ersten Trauersekunde feuern Social-Media-Profis sofort ein „R.I.P.“ ab, gefolgt von einem Video, und das war’s dann meistens schon – ein Reflex, keine weiteren Gedanken. Die Trauerrituale im Internet können einem schnell hohl vorkommen – zwischen all dem Trost, den die virtuelle Gemeinschaft natürlich auch bietet: Noch mal die besten Songtexte des Verstorbenen lesen, das schönste Video anschauen, das lustigste Interview. #Erinnerungen. Im besten Fall wird daraus eine liebevolle Abschiedsfeier, im schlimmsten erinnert es an einen Leichenschmaus für einen entfernten Verwandten, bei dem ein paar Oberflächlichkeiten ausgetauscht werden, bis endlich alle nach Hause gehen dürfen.
Keine Arm-in-Armbilder mit Bowie, nur mit Lemmy
Die Trauer-Inflation ging schon nach Weihnachten 2015 los, mit dem Tod von Lemmy Kilmister. Facebook erwies sich als Kondolenzbuch, in dem plötzlich sogar Menschen dem Motörhead-Mann hinterhertrauerten, die wahrscheinlich keine drei Songs von ihm kennen. Die einen posteten Videos und Zitate und, wenn sie Glück im Unglück hatten, ein Selfie mit dem Gestorbenen: Schaut, ich habe ihn mal getroffen! Zeige ich hier natürlich nur, um mein Beileid zu bekunden, nicht aus #Angeberei.
Als am 10. Januar David Bowie starb, gab es solche Arm-in-Arm-Bilder kaum, denn Bowie hatte sich längst von Journalisten zurückgezogen, aber er hatte mit 69 Jahren auch gerade noch einmal ein Großwerk veröffentlicht. Umso größer war das Entsetzen. Es gibt eben Popstars, ohne die sich viele von uns ein Leben kaum vorstellen können: weil sie uns geprägt haben – nicht nur unsere Jugend, sondern unsere Sicht auf die Welt und auf uns selbst. Sie haben uns geholfen, durch ihr Auftreten, ihre Melodien, ihre Texte, oder einfach weil sie durch einen Knopf im Ohr da waren, wenn sonst keiner da war. Das Bedürfnis, die Verzweiflung auszudrücken, wenn ein so wichtiger Mensch stirbt, ist nicht neu.
Neu ist die Geschwindigkeit, mit der nach dem Tod vor allem auch viele Plattitüden verbreitet werden.
Als am 21. April Prince starb, war für manche Leute offensichtlich das größte Problem, dass er zeitlebens dafür gesorgt hatte, dass es keine kostenlosen Videoclips von ihm im Netz gibt. Also kein „R.I.P.“ samt „When Doves Cry“ oder „Purple Rain“. Der Tod von Prince erforderte ohnehin ein anderes Trauern als der von Bowie, denn er war ein Versehen, ein Unfall. Eine Schmerzmittelüberdosis hatte ihn aus dem Leben gerissen, „viel zu früh“, wie dann immer alle schreien – aber wann ist jemals spät genug? Seit vielen Jahren waren Prince-Platten keine Ereignisse mehr gewesen, aber nun erinnert man sich natürlich lieber daran, dass er mal ein Genie war.
Wieder einmal wird deutlich, wie recht Lester Bangs hatte, als er 1977 schrieb, wir würden uns nie wieder über etwas so einig sein wie über Elvis. Wir waren uns in diesem Jahr auch noch einigermaßen einig über Bowie, Prince, Leonard Cohen – so einig, wie wir uns in 20, 30 Jahren über niemanden mehr sein werden. Es kommen natürlich immer noch großartige Musiker nach, aber nicht mehr so große – weil die Welt eine andere ist, sie konzentriert sich nicht mehr auf ein paar Superstars, genauso wenig wie auf ein paar Fernsehsender, ein paar Zeitschriften oder ein paar Menschen in unserer näheren Umgebung. Jedem steht jederzeit alles Mögliche zur Verfügung, deshalb ziehen sich viele lieber in ihre Blase zurück und kriegen fast gar nichts mehr mit. #UnterversorgungdurchOverkill.
Ende der Kindheit
Wenn wir gemeinsam trauern, dann auch um unsere Vergangenheit: Für viele starb die Kindheit mit Peter Lustig († 23.2.) und Bud Spencer († 27.6.), das deutsche Fernsehen mit Götz George († 19.6.) und Manfred Krug († 21.10.), und am 3. Juni starb der unsterbliche Muhammad Ali, bei dem „R.I.P.“ (Requiescat in pace) ja wohl der größte Quatsch ist, ja fast eine Beleidigung, denn warum sollte der größte aller Kämpfer in Frieden ruhen? Auf seinem Grabstein steht nicht so ein Gemeinplatz, sondern nur ein Wort: „Ali“.
Zumindest hatte bei ihm jeder gleich ein gutes Zitat zur Hand, denn Zeit zum Recherchieren bleibt kaum. Die fünf Phasen der Trauer werden in den sozialen Medien in 15 Minuten durchgearbeitet, nicht unbedingt in dieser Reihenfolge: Leugnen („Oh no!“, „Bitte nicht!“), Zorn („Scheißjahr!“, „Verdammt!“), Verhandeln („Jetzt reicht’s aber mit dem Sterben!“, „Nicht noch einer!“), Depression (Weinender Smiley), Akzeptanz („R.I.P.“).
Natürlich gibt es auch eloquentere Leute, die sich mehr Mühe geben. Einer der Fleißigsten ist der Songwriter und Produzent Joe Henry, dem zu verstorbenen Künstlern fast immer passende Worte einfallen. Als im November der Jazzpianist Mose Allison starb, wirkte Henry allerdings schon mürbe, sein Nachruf begann mit den Worten: „Ihr seid es leid, von mir zu hören. Ich bin es leid, von mir zu hören. Aber ich empfinde es als meine Pflicht auszuharren – solange das Universum weitermacht mit seinen Herausforderungen für unseren Blutkreislauf.“ #Empathie.
Zögern wir das Sterben hinaus
Zum Leben und zum Tod gibt es allerdings gar keine besseren Zeilen als die von Leonard Cohen († 7.11.): „Ring the bells that still can ring/ Forget your perfect offering/ There is a crack in everything/ That’s how the light gets in.“
Bald wird es wohl auch den Beruf Nachrufschreiber geben – ich hätte ein paar Vorschläge, welche Kollegen sich dafür besonders eignen. Wir werden in den nächsten Jahren alle nicht mehr so viel Zeit haben, Neues zu entdecken, weil wir ständig mit Nachrufen beschäftigt sind, denn machen wir uns nichts vor: 2016 war kein besonders schreckliches Jahr, auch wenn das ständig mantraartig behauptet wird.
Ab jetzt wird jedes Jahr so werden, weil die Generation von Helden, die unsere Popkultur geprägt haben, nun in dem Alter ist, in dem eben gestorben wird – zumal Leute, die wenig von Mäßigung halten, eben seltener 90 oder 100 werden als Menschen, die alle Exzesse und jede Unvernunft ablehnen. Dass ein leidenschaftliches Leben womöglich nicht so lange dauert wie ein langweiliges, wissen alle – aber das Sterben möchten wir dann trotzdem hinauszögern. Dabei wusste doch schon Marc Aurel: „Nicht den Tod sollte man fürchten, sondern dass man nie beginnen wird zu leben.“
Freuen wir uns also über jeden Tag, den wir noch haben mit – nein, ich nenne lieber keine Namen. #Vorsichtshalber.
Anmerkung: Dieser Artikel stammt aus der ROLLING-STONE-Ausgabe 1/2017, die am 22. Dezember erschien, drei Tage vor George Michaels Tod. Deshalb kommt der Sänger in diesem Rückblick nicht vor.