ROLLING-STONE-Reportage: Studio 54 – Von Disco zu Disco

Vor fast 40 Jahren eröffnete das New Yorker Studio 54, für viele noch heute Inbegriff von hemmungslosem Sex, Drogenexzessen, Exzentrik und einer Musik, die die zweite Hälfte der Siebziger bestimmen sollte – und nach Jahren der Ächtung eine umfassende Rehabilitierung erfährt. Willkommen unter der Glitzerkugel!

„If disco ist a dirty word, i don’t wanna be clean/ bumping and grinding all night long, DJ´s spinning my favorite songs/ if that ain’t right, then i giues i’m wrong“ („Disco Is A Dirty Word“, Midnight Runners, Indonesien, 2015)

Das Ende von Disco kam am 12. Juli 1979 in einem Baseballstadion, dem berühmten Comiskey Park in der South Side von Chicago. Es kam mit einem großen Knall.

Um das Pausenprogramm eines Derbys zwischen den Chicago White Sox und den Detroit Tigers aufzu­fetten, hatte sich das Comiskey-Management einen perfiden Plan ausgedacht: die Disco Demolition Night. Der lokale Radio-Rock-und-Schock-DJ ­Steve Dahl wurde dafür als Sprengmeister verpflichtet. Erst kurz zuvor von seinem Sender WDAI im Zuge einer Disco-only-Programm­reform entlassen, hetzte Dahl auf seinem neuen Sender, WLUP, schon seit Monaten gegen die zu diesem Zeitpunkt tatsächlich alles dominierende Discomusik. „Disco sucks!“ war sein Schlachtruf, er betrachtete den Sound und die Szene als eine Art Krankheit, als einen Angriff auf den gesunden, straight männlichen, weißen Rock’n’Roll-Volkskörper durch Schwule, Schwarze und Latinos. Im Kampfanzug, mit Helm auf dem Kopf schritt er in der Spielpause zur Tat, vor 50.000 seiner begeisterten, betrunkenen und bekifften „Cohos“ (eine Art Anti-Disco-Armee bestehend aus seinen Hörern), die nur 98 Cent Eintritt gezahlt hatten, sofern sie mindestens eine zu zerstörende Discoplatte dabeihatten.

Disco: Ein schmutziges Wort

Auf diese Weise waren gut 10.000 Scheiben zusammengekommen, die nun in der Mitte des Stadions in einem großen Stapel fachgerecht in die Luft gejagt wurden, was einen erheblichen Krater im Rasen zurückließ. Die „Cohos“ reagierten begeistert auf dieses Feuerwerk und stürmten sofort das Spielfeld. Das Pogrom endete in Chaos, Randale und mit dem Einsatz polizeilicher Kampfeinheiten in voller Montur.

Und tatsächlich wendete sich das Blatt für Disco in den folgenden Monaten dramatisch. Radiostationen stellten wieder auf albumorientierten Rock um, Plattenfirmen zogen sich aus dem Discomarkt zurück, Disco war, was Mainstream-Amerika betraf, durch, erledigt, tot, ein schmutziges Wort. Das ist natürlich nicht allein auf die ethnische Säuberungsaktion eines einzelnen xenophoben Radio-DJs zurückzuführen. Disco war in weiten Teilen ja wirklich unerträglich geworden, dieser Ansicht waren sogar schwarze und schwule DJs, vor allem diejenigen, die kaum zehn Jahre zuvor als Pioniere der neuen Dancemusic begonnen hatten, Disco zu definieren.

Weißwaschung und Heterosexualisierung

Rockmusik von Bands wie Led Zeppelin, Iron Butterfly, The Chicago Transit Authority, Cat Mother, Elephant’s Memory, Santana und vielen anderen hatte dabei zu den ersten Zutaten gehört, die in die Ursuppe des Discosounds gemixt wurden. Disco war, genau wie Rock, ein Kind der liberalen 60er-Jahre – es war quasi die ausgedehnte Siegesparty mehrerer erfolgreicher Befreiungs­bewegungen, vor allem denen der Frauen, der Schwarzen und der Schwulen. Das Partyprinzip hatte sich Mitte der 70er-Jahre allerdings als so magnetisch und vor allem als so gewinnträchtig erwiesen, dass ein Backlash unvermeidlich war. Das Schlüsseljahr dafür ist allerdings nicht 1979, das Jahr von „Disco sucks“ – sondern 1977, das Jahr, in dem in New York das Studio 54 eröffnete und „Saturday Night Fever“ in die Kinos kam.

Vor allem der Film markierte eine massive Weißwaschung und Heterosexualisierung von Disco, die der weiteren Kommerzialisierung wiederum riesige Potenziale erschloss. Disco hatte aus Sicht des Establishments jetzt endlich nicht mehr den Geruch von wilder Selbstverwirklichung im rauschhaften Tanz eines tribalistischen Rituals, wie die 60er-Jahre es möglich gemacht hatten. Stattdessen regierte nun der brave Discofox. Man tanzte wieder zusammen, als hätte es den Twist nie gegeben – ein musikalisch wenig revolutionäres Genre der frühen 60er-Jahre, das aber ein Segen für alle Mauerblümchen dieser Erde war, denn man brauchte keinen Partner, um den Twist zu tanzen. Der von Arif Mardin produzierte Filmsoundtrack mit seinen Bee-Gees-Hits blieb bis zu Michael Jacksons „Thriller“ das bestverkaufte Album aller Zeiten und ist, neben den Fantasien vom dekadenten Studio 54, bis heute für viele der Inbegriff von Disco.

Tänzerinnen bei der Eröffnung des Studio 54 am 25. April 1977.
Tänzerinnen bei der Eröffnung des Studio 54 am 25. April 1977.

Sehen und gesehen werden

Das Studio 54 befand sich zwar noch klar in der Traditionslinie der allerersten, schwul orientierten, sexuell freiheitlich motivierten Clubs. Wo diese jedoch noch als Schutzräume marginalisierter, aber großartig aussehender Gruppen dienten, als Versammlungsräume verschworener Gemeinden, meistens in verfallenden Gewerbegebieten gelegen, die auf diese Weise zumindest nachts wieder zaghaft blühten, lag das Studio 54 mitten im Theaterviertel von Manhattan. Und es war selbst großes Theater. Obwohl dort hervorragende DJs wie Richie Kaczor und Nicky Siano auflegten, obwohl der legendäre Richard Long dort eines der besten Soundsystems der Stadt installiert hatte (wie übrigens auch im Frankfurter Dorian Gray), stand die Musik im Studio 54 nicht wirklich im Zentrum der allgemeinen Anbetung.

Steve Rubell, einer der Besitzer und Andy Warhol im Studio 54.
Steve Rubell und Andy Warhol im Studio 54.

Das waren nun – kaum anders als heute – die Berühmt­heiten, sie waren das eigentliche Objekt der Begierde. Die Lightshow war, anders als in den meisten anderen Clubs, die oft nicht viel mehr als dunkle Löcher mit großartigem Sound waren, ziemlich hell, denn man sollte sehen und gesehen werden – zumindest auf dem Dancefloor; für die Dinge, die man lieber unbeobachtet tun wollte, standen diskrete VIP-­Bereiche zu Verfügung. Unter dem berühmten Mann im Mond mit Kokslöffel in der Nase saß Bianca Jagger auf dem notorischen weißen Pferd herum, tummelten sich Prominente wie die Modedesigner Calvin Klein und Halston, natürlich Andy Warhol, Jackie Kennedy Onassis, ­Grace Jones, Typen wie Divine und auch Typen wie Donald Trump oder Franz Beckenenbauer. Die Liste der Celebritys, die dort verkehrten, ist endlos.

„Hauptsache, die Leute sind fabelhaft“

Die beiden Studio-54-Macher, Steve Rubell und Ian Schrager, waren zwar typische Bridge-and-Tunnel-Leute, Vorstädter also, die in coolen Innenstadtclubs eigentlich nichts verloren hatten. Besonders Rubell aber stilisierte sich an der Tür zum Genie der „Salatmischung“, wie er sein erratisches Konzept der Gästeauswahl bezeichnete. „Hauptsache, die Leute sind fabelhaft. Hauptsache, du lässt keinen rein, der so ist wie ich“, hatte er seinem Türsteher erklärt. Die Liste der Gedemütigten und Abgelehnten ist fast so lang wie die der eingelassenen Berühmtheiten. Und um so manche Zurückweisung haben sich regelrechte Legenden gebildet.

Der vermutlich größte Disco-Hit aller Zeiten, Chics „Le Freak“, etwa entstand in einer bitterkalten Silvesternacht, nachdem Nile Rodgers und Bernard Edwards an der Studiotür gescheitert waren. Mit ruinierten Smokings und Lackschuhen und mit viel Wut im Bauch schrieben sie noch in derselben Nacht das Stück „Fuck Off“, das nach einer kleinen Namensänderung die bis heute bestverkaufte Warner-­Single überhaupt wurde. Studio 54 mag ein atemberaubender Ort sagenhafter Extravaganz und ungezügelter Exzesse gewesen sein, es mag ein Ort gewesen sein, wo im Handstreich Hits gemacht wurden (Richie Kaczor hatte als erster DJ angefangen, die B‑Seite der Gloria-Gaynor-Single „Substitute“ zu spielen – ein obskures Stück namens „I Will Survive“). Dennoch, mit der Essenz, mit dem, worum es bei Disco ursprünglich ging, hatte es nicht mehr viel zu tun.

Glück, Gleichheit, Gemeinsamkeit

Aber worum ging es ursprünglich? Um den hingebungsvollen Tanz Gleichgesinnter zu von einem Kenner ausgesuchten und in der richtigen Reihenfolge aufgelegten Tonträgern in einem eigens dafür vorbereiteten Raum. Um die erhebende, elementare Erfahrung von Glück, Gleichheit und Gemeinsamkeit im Herzschlag der Musik. Wer hatte damit angefangen? Nun, selbst die amerikanische Disco-Geschichtsschreibung ist sich einig, dass diese drei Elemente so tatsächlich erstmals in Nazideutschland zusammen­kamen.

Es war die legendäre Swingjugend, jene hauptsächlich hanseatischen, ja eigentlich Popperschnösel, die keinen Bock auf Adolfs unhotten Kulturgeschmack hatten, sondern lieber zu den neuesten amerikanischen Swingplatten abhotten wollten. Im Grunde kein großes Ding, schon gar kein politisches – mit Nazis an der Macht aber plötzlich eine gefährliche Undergroundkultur, die für viele Swingjugendliche im Arbeitslager endete. Ihre französischen Pendants, die sogenannten Zazous, pflegten im besetzten Paris ähnliche Vorlieben. Und hier tauchte bereits in den frühen 40er-Jahren auch das magische Wort erstmals auf: La Disco­thèque war eine Kellerbar im Quartier Latin, in der man Cocktails trank, zu Platten tanzte und Widerstandspläne schmiedete. Was für ein attraktives Konzept!

Aus eigener Kraft zum Star

Die Begeisterung für diese ursprünglich subversiven, bald aber immer exklusiveren, fabelhaften Orte blieb nach Kriegsende ungebrochen und griff immer mehr um sich. Als in New York die ersten vergleichbaren Etablissements eröffneten, ging es vor allem darum, diesen gewissen europäischen Stil zu importieren – Le Club ­etwa, eröffnet 1961 in Manhattan, orientierte sich am Look einer alpinen Skihütte. Auch Arthur (benannt nach George Harrisons Antwort auf die Frage, wie seine Frisur heißt), eröffnet 1965, war vom europäischen Geschmack beeinflusst, allerdings weniger vom Paris der Boheme als vom Swinging London.

Arthur gilt als erster Laden, der nicht ausschließlich für den Jetset gedacht war, sondern in dem sich die sozialen Schranken langsam aufzulösen begannen. Man musste nicht mehr reich oder wichtig sein, um Einlass zu erhalten – schön aber möglichst schon. Arthur-DJ Terry Noel war wohl der Erste, der keine menschliche Jukebox mehr war, kein reiner Dienstleister, der nach zwei schnellen Nummern verlässlich ­eine Schnulze brachte, damit die Gäste wieder an die Bar gehen konnten. Sondern einer, der durch Auswahl, Programmierung und gekonnte Übergänge aus eigener Kraft zum Star wurde. Seine Sets spiegelten die Blütezeit der Popmusik wider, die gerade angebrochen war.

Frauen im Xenon in New York im Jahr 1978.
Tänzerinnen im Xenon in New York im Jahr 1978.

Eine neue Tanzmusik

Parallel zur schwarzen Bürgerrechtsbewegung, von dieser befeuert, diese befeuernd entwickelten sich mit Soul (hier vor allem dem Motown-, später dem Phillysound) und Funk (hier vor allem James Brown, später Bohannon) die beiden wichtigsten Zutaten jener Ursuppe einer neuen Tanzmusik, die man in den USA erst ab etwa 1974 (also Jahre nach Ilja Richters Fernsehsendung!) Disco nennen würde. Der Soundtrack der Bürgerrechtsbewegung, des neuen schwarzen Selbstbewusstseins, geprägt von unwiderstehlichen Beats, ins Herz schneidenden Streichern und großen, emotionalen Gesangsbotschaften resonierte auch heftig mit den zu diesem Zeitpunkt immer noch versteckt und verboten lebenden Schwulen. Dazu kam die neue politisch-psychedelische Offenheit der Hippie-Generation, wie sie sich in den ersten Rockdiscos (Electric Circus in New York, UFO in London, Gruenspan in Hamburg) manifestierte. Hier experimentierten hochmotivierte Licht-, Chemie- und Akustikfreaks mit allen Aspekten des universellen, allüberwältigenden, kollektiven Musiktrips, ohne die Discos bis heute nicht denkbar sind.

DJ Francis Grasso aus dem Club Sanctuary gilt als erster New Yorker DJ, der tatsächlich mixte. Es waren die ersten Tage nach den gewonnenen Stonewall-Riots in der Christopher Street, jenem spontanen Aufstand der Dragqueens gegen die geltenden „Cabaret Laws“, denen zufolge Männer nicht zusammen tanzen durften. Und während sich sein praktisch rein männliches Publikum in dieser ehemaligen Kirche, jetzt Lusttempel, in nie gekannter Freiheit auf, über und unter dem Altar seinen fleischlichen Vergnügen hingab, mixte er dazu den Mittelteil von Led Zeppelins „Whole Lotta Love“ über den Percussionteil von Chicagos „I’m A Man“. DJ David Mancuso allerdings gilt als der Mensch, der mit seinem Loft für die Idee des Clubs als temporär wahr gewordener Utopie einer besseren Welt die endgültige Blaupause geschaffen hat. Zu seinen eigenen Partys inspiriert haben sollen den in einem Waisenhaus Aufgewachsenen die Kinderpartys unter Leitung von Schwester Alicia, die die Räume mit Luftballons und Krepppapier dekorierte, ein Büffet aufbaute und dann Platten spielte.

Idealbild einer zukünftigen Gesellschaft

The Loft war kein kommerzieller Club, sondern eine Privatveranstaltung, zu der man eingeladen sein musste – Mancuso lebte wirklich in diesem Loft, es war seine Wohnung. Darüber hinaus war er ein von Hippie-Idealen getragener Musik- und Soundfanatiker, der eine Atmosphäre schaffen wollte, in der er seine Lieblingsplatten in exquisitester Klangqualität zelebrieren konnte. Die Szene, die sich dort traf, entsprach seinem Ideal­bild einer zukünftigen Gesellschaft, die im Namen universeller Liebe ihre trennenden Mauern niedergerissen hat: schwarz und weiß, schwul und hetero und alles, was dazwischenliegt – der sozia­le Mix basierte auf der gemeinsamen Leiden­schaft für den transformierenden Tanz zur besten Musik. Seine erste Loft-Party, „Loves ­Saves The Day“ (sic!), fand 1970 statt. Noch steckte Disco in den zartesten Kinderschühchen. Doch viele der DJs, die in den nächsten Jahren, bis hin zum Studio 54 sechs Jahre später, das Discoprinzip auf- und ausbauen sollten, wurden von David Mancusos Loft tief geprägt; es waren die „Loft-Babys“, die hier verinnerlichten, worum es bei Disco eigentlich geht, und es in die Welt hinaustrugen.

Interessanterweise und ohne dass es dafür einen eindeutigen Grund gibt, waren fast alle frühen New Yorker Disco-Pioniere an der Schwelle von den 60er- zu den 70er-Jahren schwule Italiener, deren Namen mit einem o endeten: Francis Grasso, David Mancuso, Michael Cappello, Steve D’Aquisto, Bobby „DJ“ Guttadaro … Ein weiteres dieser damals noch blutjungen Loft-Babys, Nicky Siano, eröffnete im Februar 1973 mit The Gallery den ersten Club, der das idealistische Loft-Konzept in einen richtigen, profitablen Laden übertrug. Außerdem spielte er, anders als der in dieser Hinsicht rigide Mancuso, die Platten nicht komplett von vorn bis hinten – Siano mixte das endlos geflochtene Band aus inein­anderfließenden Beats als Erster in Perfektion. Und das zu einer Zeit, als das ausschließliche Medium für DJs 7inch-Singles waren, neben dem einen oder anderen Albumtrack.

David Mancuso, der Besitzer von The Loft im Jahr 1974.
David Mancuso, der Besitzer von The Loft, im Jahr 1974.

Schwules Eden auf Long Island

Das Tableau war bereitet, nun nahm die Discomaschine Fahrt auf. Ein Club nach dem anderen öffnete, DJs wurden zu mächtigen Geschmacksbildnern, erste Plattenfirmen reagierten. Mel Cheren, später Chef des vielleicht wichtigsten New Yorker Discolabels, West End, überredete die kleine Firma Scepter, für die er als Promoter arbeitete, auf die B-Seite der Sin­gle „We’re On The Right Track“ der Gruppe Ultra High Frequency einfach noch eine Instrumental­version des Stücks zu packen, damit die DJs es auf diese Weise, unter Verwendung von zwei Kopien, verlängern konnten. Tom Moulton, bald gefeierter Remixer und Zufallserfinder der 12inch-Maxi-Single, kompilierte mit Rasierklinge und Klebeband die ersten Mastermixe für die stilprägende Fire-Island-Szene – eine Art schwules Eden auf Long Island –, die das Lustprinzip des niemals aufhörenden Discobeats schneller und inniger verstanden hatten als der Rest der Welt.

Hier, in Clubs wie dem Sandpiper und dem Ice Pa­lace 57, materialisierte sich in einer Feedbackschleife zwischen der Musikauswahl der DJs und der Dance-Reaktion des frisch befreiten, muskulös-prächtigen Schnauzbart­publikums das, was bald darauf als Discosound die Welt erobern würde – das war nicht mehr Soul oder Funk, schon gar nicht Rock, das war ein ganz neues Amalgam, in dem sich auch Latin-Rhythmen, Afro­beat und Showtune-Elemente wiederfanden.

Disco-Dammbruch

Das vielleicht erste Stück, das man als ganz und gar Disco bezeichnen könnte, ist der Geigenhimmel von Barry Whites „Love’s Theme“, neben „Love Is The Mes­sage“ von MFSB und „Rock Your ­Baby“ von George McCrae (der übrigens bis heute mit Frau Antje aus der Käse-aus-Holland-Werbung verheiratet ist, die nebenbei gesagt auch die Frau aus der freizügigen Fa-Reklame war, wie er mir mal bei einer langen Bahnfahrt erzählt hat). „Rock Your Baby“ war auch der erste Disco-Hit mit einer Drum­machine (wenngleich einer sehr simplen, muffig klingenden), die bei der bald einsetzenden Elektronifizierung von Disco (vor allem durch den stets etwas überschätzten Giorgio Moroder und den stets etwas unterschätzten Patrick Cowley) und der dadurch eingeleiteten Entwicklung von Stilen wie House und Techno die Schlüsselrolle übernehmen sollte.
Dann kam der Disco-Dammbruch. Riesige Hits wurden in schneller Schlagzahl durch die DJs der immer riesigeren Clubs von New York erzeugt (wobei auch San Francisco nicht unerwähnt bleiben sollte), und spätestens als 1975 „The Hustle“ von Van McCoy erschien oder „Save Me“ von Silver Convention (europäische Importe waren vor allem in den eher weißen Schwulenclubs schon früh beliebt), war die Formel klar definiert und wurde nun von den wahren Disco-Stars, den Produzenten, in jeglicher Form durchdekliniert – zwischen hellstem Licht und schlimmstem Schatten.

In der klassischen Ära der Disco-Dominanz zwischen 1975 und 1979 gab es einen irrwitzigen Musikausstoß in einem extremen Qualitäts­spagat. Man kennt das Phänomen auch von der Neuen Deutschen Welle oder später von Techno: Wenn es endlich auch der ­Dümmste begriffen hat – sagen wir, Kiss und Rod Stewart –, wird es unerträglich. Und bald schon hieß es: Disco sucks. Das eingangs geschilderte Ende von Disco war erreicht.

Vor dem Studio 54: Steve Rubell (l.) und Ian Schrager im Jahr 1978.
Vor dem Studio 54: Steve Rubell (l.) und Ian Schrager im Jahr 1978.

Zurück in den Underground

Aber ähnlich wie bei NDW und Techno war es natürlich nur das Ende des kommerziellen Exzesses und der künstlerischen Scheußlichkeiten (die schnell neue Spielfelder fanden – Hair Metal zum Beispiel oder eben NDW). Während die ­Studio‑54-ZampanosSteve Rubell und Ian Schrager wegen Steuerhinterziehung ins Gefängnis wanderten – hinter Heizungsrohren und Holzpaneelen hatten sie mehrere Millionen Dollar gebunkert –, ging Disco, wie man so schön sagt, zurück in den Underground, machte dort ungerührt weiter wie bisher, erzeugte neue, fantastische Amalgame insbesondere mit Punk, und mutierte Mitte der 80er-Jahre langsam zu House.

Auch für diese bedeutende Entwicklung gibt es einen mythischen Ort und einen Schutzheiligen: DJ Larry Levan und die Paradise Garage. Hatte man deren große Rampe passiert, betrat man so etwas wie die Antithese zum Studio 54, bei ähnlichen Dimensionen: ein riesiger, aber dunkler Dancefloor, ebenfalls mit einem gigantischen Richard-Long-Soundsystem bestückt, aber ein echter Tempel der Musik, die Larry Levan wie ein Hohepriester zelebrierte (mit den dazugehörigen gelegentlichen Wutausbrüchen und Crowd-Quälereien – wenn es sein musste, spielte Levan eine Stunde lang dasselbe Stück, bis die Leute es kapierten, oder Dub-Reggae, wenn ihm der Sinn danach stand). Zeitzeugen beschreiben die Atmosphäre als fruchtblasig warm, man war ganz und gar im Bass eingehüllt. Eröffnet auf dem Höhepunkt der Disco-Ära 1976, bedeutete die Para­dise Garage eine Rückbesinnung auf den Geist und die Ideale von Mancusos Loft (auch Levan war einst ein Loft-Baby gewesen). Als sie 1987 schloss, fand Larry Levan nie wieder einen vergleichbaren Tempel. Er starb 1992, hinterließ der Welt aber ein großes musikalisches Erbe: Garage House.

Riesige, ungehörte Schätze

Und was wurde aus Disco? Das, was 1979 in einem Feuerball sterben sollte, ist heute die vielleicht umfassendst rehabilitierte Musik aller Zeiten. Vor allem in den vergangenen 15 Jahren wurden durch umfangreiche archäologische Ausgrabungen (sprich Wühlarbeit in Kellern, Speichern und Archiven) riesige, nahezu ungehörte Schätze geborgen. Für die immer noch grassierende Retromanie ist die Früh- und Kernzeit von Disco eines der fruchtbarsten Felder überhaupt. Exzellente Disco-Reissues kommen fast monatlich in liebevoller Aufmachung in den Handel, ergänzt durch die intelligentesten Exegesen. Erst heute wird so richtig deutlich, was die Welt einst an Disco hatte. Um abschließend Nile Rodgers zu zitieren: „Disco hat, wenn man es recht bedenkt, mehr für den Weltfrieden getan als jede andere Musikrichtung.“
Möge sich die Kugel noch lange drehen!

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