ROLLING STONE hat gewählt: Die besten Alben des Jahres 2022
ROLLING STONE präsentiert die besten Alben des Jahres 2022
01. Tom Liwa: „Eine andere Zeit“
Das ewige Genie unter den deutschen Songwritern rückt erstmals auf die Poleposition der RS-Jahres-Charts. Das ist umso erstaunlicher, als es überhaupt das erste deutschsprachige Album ist, das die Kritiker:innen auf Platz 1 gewählt haben. Erstaunlich ist auch, wie sich Tom Liwa ein ums andere Mal aus dem Sumpf der Selbstgefälligkeit befreit. Er hätte sich ja längst zurückziehen können: auf die Verkultung, die Verehrung für den ach so verkannten Außenseiter. Aber Liwa ist keiner, der sich auf seinen künstlerischen Meriten ausruht, sondern einer, der seinen kreativen Weg – so verschlungen der auch sein mag – unbeirrt weitergeht, manchmal mit dem Kopf durch die Wand, manchmal behutsam vorwärts tastend, allen Widerständen, die das hiesige Musikbusiness so mit sich bringt, zum Trotz.
„Eine andere Zeit“ nimmt zwischen den vielen herausragenden Liwa- und Flowerpornoes-Platten noch einmal eine Sonderstellung ein, weil es den spirituell durchgeschepperten Sinnsucher mit dem experimentierfreudigen Kindskopf versöhnt. Es dürfte schwer werden, anderswo eine ähnlich versponnene und zugleich nahbare Musik zu finden. Darin liegt vielleicht Liwas größte Meisterschaft. Denn im Prinzip enthält „Eine andere Zeit“ die Zutaten, die bei anderen nerven und langweilen: die Zitierwut, das eklektische Hakenschlagen. Zu schreiben, dass sich all das bei Liwa ganz natürlich, ja organisch anfühlt, wäre ein Klischee und eine Untertreibung. Mit Liwa schlendern wir nicht durch eine Kunstausstellung für Popgeschichte – wir fahren durch eine Seelenlandschaft, die ständig in Bewegung ist, die aufgetürmt und abgetragen und angespült wird, die verweht und vergeht und von vorn beginnt und immer neue Schichten von Zeit freilegt. Auf dieser Fahrt begegnen wir den unterschiedlichsten Wesen. Waren es auf dem Flowerpornoes-Album „Morgenstimmung“ (2021) Gestalten, die mit Liwa noch ein paar Rechnungen zu begleichen hatten, ist „Eine andere Zeit“ bevölkert von Protagonist:innen aus dem Reich des Unterbewusstseins.
Gendern dient an dieser Stelle übrigens nicht der politisch korrekten Pflichterfüllung – das nur zur Erklärung für jene sich vom Aussterben bedroht fühlende Spezies Männer, die sich auf Beifahrersitzen eines Hodens beraubt fühlen –, Gendern ist im Fall von „Eine andere Zeit“ nur folgerichtig. Das Album basiert nämlich auf einem Gedankenspiel: Was, wenn ich nicht als Junge zur Welt gekommen wäre? Und, daraus resultierend, die Frage: Trage ich Weiblichkeiten in mir, und wenn ja, wie viele? Liwa kostet diesen alternativen Lebensverlauf genüsslich aus, vom „Mädchen mit dem Perlenohrgehänge“-Cover bis zum Pseudonym Marion van der Beek, der Frau, die Liwa vielleicht geworden wäre. Ein Konzept also, das bei aller überbordenden Fantasie im Vergleich zu anderen Pop-Versuchen über Geschlechteridentitäten ziemlich konkret wirkt.
Man muss von diesem Hintergrund nichts wissen, um sich von den surrealen Mäandern und Bewusstseinsströmen auf „Eine andere Zeit“ fortreißen zu lassen. „Schon wieder Februar“ berichtet lakonisch vom Einbruch der Routine und dem Aufwachen in der Wirklichkeit: „Wir wollten eigentlich viel weiter sein, aber wir sind nur bis hier gekommen/ Die tollen Jobs und das Haus in den Wolken haben die Gespenster mitgenommen“, singt Liwa mit einem Schulterzucken. Er findet keinen Trost in Floskeln und endet süffisant: „Der Fail des Jahrhunderts im Jahrhundert der Fails.“ Sämtliche Register seiner Erzählkunst zieht Liwa in „Hunter“, einer neunminütigen Strophe, die er dem Grateful-Dead-Texter Robert Hunter gewidmet hat. „Da, wo sich alle Wege kreuzen, ist ein Berg mit einer Höhle, wo ein Drache wohnt/ Wer bedingungslose Liebe nie erlebt hat, sieht ihn nicht“, heißt es zu Beginn des Stücks. Und wie dann Alltagsbeobachtung, Trommelreise und Traumatherapie in eins fallen, wie John Martyn, Richard Brautigan und die Brüder Grimm vor dem inneren Ohr auferstehen, wie schließlich gar keine Worte mehr nötig sind und die Geschichte in Liwas Kehlkopfgesang aufgeht – das ist von unbeschreiblicher Schönheit. Noch transzendentaler, noch schamanischer gerät das zwischen Neil Young und Van Morrison oszillierende „Onya“.
Alles aufzuzählen, was an „Eine andere Zeit“ großartig ist, stünde im Widerspruch zur Magie dieser Musik. Sie birgt ein paralleles (Liwa-)Universum, in dem man sich verlieren will. Eines der rätselhaftesten, hinreißendsten Lieder heißt „Kekse für die Königin des Himmels“. Tom Liwa hat sich mit diesem Album zur Königin der deutschen Songschreiber:innen gekrönt. Der König war er ja eh schon. Max Gösche
Bester Song: „April Scythe“