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Die 500 besten Alben aller Zeiten (Plätze 10-1)
Der deutsche ROLLING STONE hat ein neues Ranking der 500 besten Alben aller Zeiten aufgestellt – fast 20 Jahre nach der ersten Bestenliste. Hier gibt es die Plätze 10-1 als Fotogalerie.
Foto:
Rolling Stone.
All rights reserved.
10
Back To Black
Amy Winehouse
Island, 2006
Amy Winehouse wird von einem Londoner Insidertipp zum Weltstar. Jazz und Ska sind erst mal passé. R&B der traditionellen Schule kommt mit ihr im neuen Jahrtausend an. Der Girlgroup-Soul der 1960er steht Pate. Songs wie „Rehab“ (Alkohol) oder „Love Is A Losing Game“ (Herz/Schmerz) verbinden die Musik mit ihrem derben Privatleben zwischen Euphorie und Absturz.
Ein wahres, wildes Leben tragisch nah am „Live fast, die young“-Klischee des Rock’n’Roll, das ihren Vortrag so einzigartig macht. Und wie meist in großen Pop-Momenten spielt Style eine wichtige Rolle: die hochgetürmte Bienenkorbfrisur, ihre Tattoos in den Videos. Eine bittersüße Kombi, die ihr Produzentengespann gleichwohl in einen organisch leichtfüßigen Sound kleidet.
Salaam Remi war bereits beim Debüt, „Frank“, dabei. Nun unterstützt ihn kongenial Mark Ronson aus New York, der über sein DJ-Deck hinweg bereits Mainstream-Luft bei Großkalibern wie Christina Aguilera oder Robbie Williams schnuppern konnte. Remis „Tears Dry On Their Own“ kupfert mit melancholischem Gruß bei der Soundschule des Motown-Labels ab. Ronson wiederum vertraut auf kohärente Arrangements, die der wankelmütig selbstzerstörerischen Aura von Winehouse Halt geben.
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„We only said goodbye with words/ I died a hundred times/ You go back to her/ And I go back to black“, heißt es düster im Titelsong. Dieser nimmt ihre immerwährende Krise vorweg, aus der sie trotz all der Anerkennung mit Grammy Awards und Millionenverkäufen nicht herausfindet – Winehouse stirbt im Juli 2011 im Alter von 27 Jahren an einem fatalen Cocktail aus Pillen und Schnaps.
RALF NIEMCZYK
Copyright: Getty Images/Dan Kitwood
9
Horses
Patti Smith
Arista, 1975
Es ist nicht verbrieft, ob sich Patti Smith für ihr Debütalbum die Nächte über die Reihenfolge der Songs um die Ohren schlug. John Cale hatte „Horses“ ja bewusst stümperhaft produziert, um einen Klang zu bekommen, der die rohe Energie dieser jungen, ungestümen Künstlerin und ihrer fantastischen Band konservierte.
Aber was für ein Glücksfall ist es, dass ausgerechnet „Gloria: In Excelsis Deo“ in den Kosmos dieser demütigen Dichterin einführt, die durch magische Zufallsbegegnungen in einem New York zur Musik gelangte, dessen Ungeheuerlichkeit sie just genau zu der Zeit beschwor, als es langsam zu zerfallen begann. „Jesus died for somebody’s sins but not mine“, sprechsingt Smith, und wie könnte eine Platte mit einem stärkeren Leitspruch beginnen? Alles ist in dieser zwanglosen Van Morrison-Neubearbeitung schon da: das Wilde, das Lebensbejahende, die lyrische Hingabe, die Verneigung vor den literarischen und musikalischen Helden.
Smith bereitete die Welt auf das vor, was dann irgendwann Punk hieß. Sie misst sich furchtlos mit Bob Dylan, sie hypnotisiert sich selbst („Free Money“), sie faucht wie Lou Reed und kräht wie William S. Burroughs, sie hat die schwebenden, epischen Kompositionen („Birdland“, „Land“), sie kniet sich tief in ihre eigenen unruhigen Gefühle („Kimberly“), und wo ihre sich Lenny Kaye mit seiner ungestümen Gitarre für sie auf („Break It Up“).
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Smith bereitete die Welt auf das vor, was dann irgendwann Punk hieß. Sie misst sich furchtlos mit Bob Dylan, sie hypnotisiert sich selbst („Free Money“), sie faucht wie Lou Reed und kräht wie William S. Burroughs, sie hat die schwebenden, epischen Kompositionen („Birdland“, „Land“), sie kniet sich tief in ihre eigenen unruhigen Gefühle („Kimberly“), und wo ihre sich Lenny Kaye mit seiner ungestümen Gitarre für sie auf („Break It Up“).
Patti Smith musste den Namen ihres schriftstellerischen Helden Rimbaud nicht erwähnen, um ihre Ambitionen zu veräußern, „Horses“ musste nicht darauf aufmerksam machen, dass es ein Kunstwerk eigenen Ranges war.
Smiths Lebensmensch Robert Mapplethorpe kleidete dieses Geschenk für eine unruhige Generation, deren Götter bald verglüht sein sollten, mit einem Coverfoto ein, das in seiner Androgynität eines der aussagekräftigsten und persönlichsten in der Geschichte der Rockmusik sein dürfte.
(MARC VETTER)
Copyright: Lynn Goldsmith
8
Blonde On Bonde
Bob Dylan
(Columbia, 1966)
Die Cover mancher Platten sehen so legendär aus, dass man sie sofort kaufen möchte, ohne einen Song gehört zu haben. Das Foto mit dem Wuschelkopf Bob Dylans auf „Blonde On Blonde“ ist so legendär, weil der Fotograf Jerry Schatzberg es verwackelt hat. Natürlich sah Dylan, dass es genau richtig war für ein Album, auf dem die Hawks, nachmals als The Band und Dylans Begleitband berühmt, Al Kooper an der Orgel, Joe South und Charlie McCoy an den Gitarren und Hargus „Pig“ Robbins am Piano spielten. Die Aufnahmen begannen im Herbst 1965 in New York und wurden im Frühjahr 1966 in Nashville fortgesetzt.
Manche Platten möchte man sofort des Albumtitels und der Songtitel wegen kaufen, und auch solch eine Platte ist „Blonde On Blonde“: „Rainy Day Women #12 & 35“, „Stuck Inside Of Mobile With The Memphis Blues Again“, „Temporary Like Achilles“, „Absolutely Sweet Marie“, „Leopard-Skin Pill-Box Hat“. Dann hört man das Album, und es haut einen um. Dergleichen hatte die Welt noch nicht gehört. Als hätte Thomas Pynchon Songs mit Hoagy Carmichael und John Coltrane geschrieben, so surrealistische, vollkommen grundstürzende und unabweisbare Gebilde. Aber auch ganz formstrenge, wunderschöne Lieder wie „Visions Of Johanna“ und „Just Like A Woman“, die klingen, als wären sie schon immer da gewesen.
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Dylan hatte einen Begriff für den Klang der Platte: „that thin, wild mercury sound“. Außerdem ist es das erste Doppelalbum überhaupt. Und auf der vierten Seite ist nur ein Song, „Sad Eyed Lady Of The Lowlands“.
Die Welt staunte und die Propheten wunderten sich.
(ARNE WILLANDER)
Copyright: Redferns/Val Wilmer
7
The Beatles
The Beatles
Apple, 1968
Alles ist weiß: das Cover. Das Rauschen. Das Gewand von Maharishi Mahesh Yogi. Der Bobtail von Paul McCartney, „Martha“. Die Zähne von Mia Farrows Schwester Prudence, die – nicht nur im übertragenen Sinne – drinnen, in ihrer Depression bleibt, statt rauszukommen, obwohl John sie so nett bittet: „Won’t you come out to play/ Greet the brand new day?“
Die Beatles sind auf dem Cover ihres 1968er-Albums nicht mehr zu sehen, nicht mal mehr, wie eine Platte zuvor, in Blaskapellen-Verkleidung. Vier Entitäten auf der Höhe ihres musikalischen Schaffens, die sich derart gut kennen, dass sie auch solo performen können, wie Paul (with a little help from Ringo) bei „Why Don’t We Do It In The Road?“, wie John beim Liebeslied für seine Mutter, „Julia“, über deren Verlusttrauma er sich erst mit Yoko Onos Hilfe bewusst wurde: „When I cannot sing my heart/ I can only speak my mind.“
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6
Pet Sounds
The Beach Boys
Capitol, 1966
„We’ve evolved 800 percent in the last year“, hatte Brian Wilson errechnet. Tatsächlich konnte der Evolutionssprung von „Barbara Ann“ zu „Good Vibrations“ binnen eines knappen Jahres nicht gewaltiger sein. Und dazwischen lag sein Opus magnum, ein Beach-Boys-Album, das mehr war als die Summe von Hitsingles. Ein künstlerisches Statement, hochambitioniert, über Monate ertüftelt und perfektioniert vom begnadeten Musikus.
Kein radikaler Bruch mit der Bandtradition allerdings, denn das größte Pfund, mit dem Brian zu wuchern verstand, blieb die überragende Gesangsleistung des Quintetts. Auf den Schwingen dieser Harmonies trafen seine Songs sicher ihr Ziel, nicht konzeptionell befrachtet und doch klug eingebunden in den Rahmen eines Gesamtwerks.
Eingangs bekennt sich „Wouldn’t It Be Nice“ zu unkeuschen Träumen, verschiebt deren Erfüllung aber auf ein späteres Ehegelöbnis. Das Plädoyer für jugendliche Enthaltsamkeit schoss in die US-Single-Charts, während im UK die Rückseite reüssierte, ein feierlicher Liebesschwur für die Ewigkeit: „God Only Knows“.
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Soulsearching betreibt der von Selbstzweifeln geplagte Songwriter auf „I Just Wasn’t Made For These Times“, das melodisch robust gesponnene Seemannsgarn „Sloop John B“ erschien manchem Fan indes eher als Fremdkörper auf einer LP, deren Rezeptionsgeschichte ohnehin alles andere als linear verlief.
„Pet Sounds“ hatte zwar von Anfang an begeisterte Fürsprecher, darunter auch etliche Musikerkollegen, aber Brian Wilson musste Jahre warten, bis sein Geniestreich auch in Kritikerkanons endlich die gebührende Anerkennung fand.
(WOLFGANG DOEBELING)
Copyright: Michael Ochs Archives
5
Rumours
Fleetwood Mac
Warner, 1977
An „Rumours“ kam damals selbst die hiesige Intelligenzija nicht vorbei. So erkannte die von Hans Magnus Enzensberger herausgegebene Zeitschrift „Kursbuch“ in ihrer „Jugend“-Ausgabe nach der erwartbaren Mäkelei über zu viel US-Politur ohne echten Tiefgang immerhin „modernen Pop-Realismus“. Dabei war es ja genau andersherum, und genau das war die Kunst der Band: Fleetwood Mac verwandelten „Trauma, Trauma“ (Christine McVie) in radiofreundliche Begleitung für den Alltag, ohne dessen dunklen Kern zu verleugnen.
Denn die Realität bestand für das untereinander oft stumme Quintett zu diesem Zeitpunkt darin, ihr Beziehungschaos in und über ihre Musik zu verhandeln, gefüttert auch von nicht unbedingt den Realitätssinn stärkenden Koks-Linien, die von Kalifornien bis Alaska gereicht haben dürften.
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Auf dem Cover posieren Mick Fleetwood und Stevie Nicks. Doch trotz „Dreams“ (ihrer einzigen US-Nummer-eins) ist „Rumours“ vor allem das Album von Lindsey Buckingham, der schon die Vorabsingle „Go Your Own Way“ mit einem Trademark-Solo antrieb und stets seine Vision des perfekten Pop vor Augen hatte, und nicht zuletzt das der wunderbaren Christine McVie, die ihren Ex bespöttelte („You Make Loving Fun“), den Chef in sanftem Sarkasmus badete („Oh Daddy“), zwischendurch einen Liebesstrahl wie von einem anderen Stern schickte („Songbird“) und mit „Don’t Stop“ sogar noch Luft für ein bisschen Zukunft hatte.
Die Kritik erklärte „Rumours“ schon 1977 weitestgehend zum Klassiker, und der wurde das Album dann auch. Nur Robert Hilburn („L.A. Times“) hörte eine „frustratingly uneven“ Platte. Vermutlich hatte er zu viel Adorno gelesen.
(JÖRG FEYER)
Copyright: Getty Images/Frank Edwards
4
Nevermind
Nirvana
DGC, 1991
Als im Spätsommer 1991 zunächst Metallica ihr „Black Album“ und Guns N’ Roses das Geschwisterplattenduo „Use Your Illusion“ veröffentlichen, reibt sich die Musikpresse ob des erwarteten Gigantenkampfs zwischen Heavy Metal und Hardrock bereits die Hände. Dass letztlich „Nevermind“, das am 24. September veröffentlichte zweite Album eines Underdog-Trios aus dem Bundesstaat Washington, diejenige Platte ist, die die Musiklandschaft revolutionieren, die Gitarrenmusik um den Genrebegriff „Grunge“ erweitern und weltweit die Charts dominieren wird, ahnt damals noch nicht einmal die Band selbst.
Was wohl auch der eklatante Unterschied zum bis dato vorherrschenden Rockstar-Lebensentwurf ist: Nirvana wollten nie primär berühmt werden, sondern einfach nur ihr Ding machen. Und das ist im Fall von „Nevermind“ die dynamisch wilde Vision, Punk und harten Rock mit der Melodieverliebtheit der Beatles zu kreuzen. Mit Dave Grohl als Schlagzeuger-Neubesetzung, einem Major-Label im Rücken und Butch Vig am Neve-Pult navigiert Kurt Cobain – Sänger, Gitarrist, Songschreiber und künftiger Alternative-Rock-Antiheld – sensibel und krawallig zugleich durch einen Emotionalsturm aus introspektiven Texten und ergreifenden Hooks.
„Smells Like Teen Spirit“ gerät zur ersten Single-Hymne der Generation Grunge. Es folgen weitere („Come As You Are“, „Lithium“, „In Bloom“). Dabei darf man ruhigere Deep Cuts wie „Polly“ oder „Something In The Way“ keineswegs unterschlagen. Den anfangs vom Label erhofften Absatz von 250.000 Einheiten hat „Nevermind“ gleich hundertfach übertroffen.
(FRANK THIESSIES)
Copyright: Redferns/Paul Bergen
3
Revolver
The Beatles
Parlophone, 1966
Eigentlich hätten die Beatles in der ersten Hälfte des Jahres 1966 ihren dritten Spielfilm drehen sollen: eine Westernkomödie nach Richard Condons Roman „A Talent For Loving“. Doch Manager Brian Epstein lehnte das Drehbuch ab (das dann schließlich 1969 mit Richard Widmark in der Hauptrolle verfilmt wurde), sodass die Beatles plötzlich unerwartet viel Zeit hatten, um sich auf die Produktion ihres nächsten Albums zu konzentrieren.
Sie verbrachten im Frühjahr 1966 etwa 220 Stunden im Studio, während es bei dem im Dezember 1965 erschienenen Vorgänger, „Rubber Soul“, gerade mal 80 Stunden gewesen waren. Ihre musikalischen Ideen wurden komplexer, ihre Forderungen wurden anspruchsvoller, ihr Produzent George Martin war nun nicht mehr alleinige Autorität im Kontrollraum, sondern ebenso wie der junge Toningenieur Geof Emerick vor allem ein Erfüllungsgehilfe.
Treibende Kräfte waren dieses Mal Paul McCartney und George Harrison. Bisher im Schatten des durch depressive Verstimmungen und die Wirkung von LSD nun allmählich weniger produktiven Bandleaders John Lennon, erblühten seine Juniorpartner und entfalteten ihre musikalischen Persönlichkeiten. Harrison brachte seine Leidenschaft für indische Musik ein, McCartney seine Liebe zu Music Hall und Motown und sein neu gewecktes Interesse an der Avantgarde. Die größte Entgrenzung stieß allerdings Lennon selbst mit „Tomorrow Never Knows“ an. Dieses sich mithilfe seiner Freunde zu einem psychedelischen Drone entwickelnde Ein-Akkord-Stück war der erste Song, den die Beatles für das neue Album aufnahmen, und er gab die Richtung vor.
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„Revolver“ ist das radikalste Album der Beatles, oszilliert in gerade mal 35 Minuten zwischen indischem Raga, Motown-Soul, Kammermusik und Acid Rock, Kunst- und Kinderlied, Musique concrète und Prä-Rock-’n’Roll-Balladen. Alles war möglich, und alles gelang. Trotzdem galt es bis in die Neunziger hinein bei Kritikern (und, was die Verkäufe angeht, auch bei Fans) weniger als die Nachfolger „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“, „The Beatles“ und „Abbey Road“. Ein Grund dürfte sein, dass in den USA 1966 eine um drei (Lennon-)Stücke gekürzte Version des Albums erschien, die wiederum in dem Tumult um Lennons Äußerung, die Beatles seien populärer als Jesus, unterging. Für nachfolgende Generationen – vor allem für die durch die „Beatles Anthology“ Mitte der Neunziger angefixte Britpop-Generation – ist das, die Energie der frühen und die Experimentierfreude der späten Beatles vereinende Werk, zu Recht das Nonplusultra der Fabness.
(MAIK BRÜGGEMEYER)
Copyright: Getty Images/Mark and Colleen Hayward
2
What’s Going On
Marvin Gaye
Motown, 1971
Im letzten 500er-Ranking unserer US-Kollegen belegte „What’s Going On“ Platz 1. Der war in den vergangenen Jahrzehnten immer für „Pet Sounds“, „Blonde On Blonde“ oder ein Album der Beatles reserviert. Nun, „What’s Going On“ ist so etwas wie das „Sgt. Pepper’s“ des Soul, aufgeladen mit einem erstarkten afroamerikanischen Selbstbewusstsein. Es ist ein politisches Album, aber vor allem ein Album, das die Sprache und Harmonie des Rhythm & Blues erweiterte, das sich vom Uptempo-Sound der Motown-Hitfabrik emanzipierte, Jazz hineinließ und Soul neu definierte.
Marvin Gayes erstes selbst produziertes Album markiert Anfang der 70er-Jahre eine Zeitenwende in der Popmusik. Als er 1970/71 „What’s Going On“ aufnimmt, hat er eine tiefe Schaffenskrise überwunden, ist die gleichnamige Single entgegen den Erwartungen seines Chefs Berry Gordy in den USA ein Nummer-eins-Hit geworden. Der den Katzenjammer nach der Euphorie der Bürgerrechtsbewegung und die Tragödie von Vietnam reflektierende Song kommt auf Samtpfoten daher, ist in einen orchestralen Flow gehüllt, von einem weichen Bass geführt, vereint auf bis dahin ungehörte Weise Soul und Jazz. Und über allem Gayes leidenschaftliches Falsett.
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Im Studio arbeitet er erstmals weitgehend allein mit seinen Musikern, er ist Autor und Produzent und frei wie nie zuvor. Das Album variiert diese Grundstimmung, thematisiert gesellschaftspolitische Fragen, lässt die Musik elegant und deep in einen besseren Morgen grooven. Und selbst ein die Umweltzerstörung anprangernder Song wie „Mercy Mercy Me“ klingt wie ein Liebeslied.
Marvin Gaye ist einer der ersten afroamerikanischen Künstler, die das Format Album als Kunstform nutzten und sich durch die Arbeit daran überhaupt erst wirklich als Künstler entdeckten. „What’s Going On“ steht für eine Freiheit, die Generationen von Musikern und Musikerinnen den Weg bereitete. Und: Es ist ein unwahrscheinlich bewegendes Album.
(SEBASTIAN ZABEL)
Copyright: Getty Images/Paul Natkin
1
The Velvet Underground & Nico
The Velvet Underground & Nico
Verve, 1967
Der Anfang von Underground-Musik, wie wir sie kennen. Inzwischen ist uns ihre Klangsprache vertraut, damals war sie ganz neu: Der Sound ist roh, garagig und relativ monoton, die Musik klingt, als könnte man sie anfassen. Leicht versetztes Schlagzeug. Zwei Akkorde, abwechselnd über die Gitarre gezogen. Ein einziger Ton, der den ganzen Song lang dröhnt. Darüber Lou Reed, der halb spricht, halb singt: über Drogen, gescheiterte Existenzen, Lack-und-Leder-Sex, die Sonntage und Montage nach wilden Partys, an denen man sich in einen heulenden Clown verwandelt. Über das Warten im falschen Stadtviertel, das süße Nichts … Gut, „Oh! Sweet Nuthin’“ war auf einem anderen Album, aber hören kann man es doch, das Nichts, zwischen den Songs, auf dem Debüt der Velvets, dem mit der berühmten Banane. Peel slowly and see.
Menschen sterben, Ideen leben für immer, wie es ausgerechnet im Trailer zu Greta Gerwigs aktuellem „Barbie“-Film heißt. Die glamourösen Starlets der Sechziger sind fast alle tot, Edie nur noch ein Foto, die Factory abgerissen, Warhols Superstars Geschichte, Nico von ihrem Fahrrad gefallen, Warhol an den Spätfolgen des Attentats auf ihn krepiert. Aber die Songs sind noch da, und sie klingen, als würden sie jedes einzelne Mal wieder in genau diesem Augenblick gespielt, in der Ferne der vergangenen Jahrzehnte.
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Denn während die Beach Boys und die Beatles 1967 auf große Orchester setzten, nahmen The Velvet Underground alles weg, was man nicht brauchte. Aber was sie behielten, klingt bis heute wie gerade aufgenommen. „Sunday Morning“ in seiner reduzierten, bedrohenden Süße: „Watch out, the world is behind you!“ „I’m Waiting For The Man“? „He’s never early, he’s always late/ First thing you learn is that you always gotta wait“ gilt bis heute: Drogendealer kommen nach wie vor immer zu spät. Passt aber auch, wenn man auf den Bus oder die Uber-Eats-Lieferung warten muss. Man muss genau hinhören. Etwa bei der Bridge von „Venus In Furs“: „I am tired, I am weary/ I could sleep for a thousand years/ A thousand dreams that would awake me/ Different colors made of tears.“ Die Poetik der Zeilen ist nicht leer: Natürlich, die Farben verschwimmen, weil man vor Erschöpfung oder Kummer Wasser in den Augen hat. Das Fossil eines Augenblicks. Die Sehnsucht nach einer Zeit, die man nicht erlebt hat.
Vermutlich war es in Wirklichkeit ziemlich ätzend damals, im New York der Sechziger. Vielleicht ist sich das Leben in den großen Städten immer ähnlich. Ohne die Velvets hätte es jedenfalls weder Nirvana noch Sonic Youth noch all die andere kratzbürstig-ambitionierte Indie-Musik so gegeben. Eigentlich der ganze „dekonstruktivistische“ Rock seit den Nineties hat außer im Punk in Velvet Underground seine Wurzeln. Zugleich klingt niemand wie sie. Sie waren ihr eigenes Genre und sind es bis heute geblieben.
(JULIANE LIEBERT)
Copyright: Redferns/Adam Ritchie
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