ROLLING STONE Beach: Surfen auf der Welle der Begeisterung
Die wichtigsten Konzerte vom ROLLING-STONE-Beach 2024
Bright Eyes sind nicht da, aber dafür hat der deutsche Meister des Über- und Unterschwanges Gisbert zu Knyphausen sein launisches Herz als Sänger von Husten an den Verstärker angschlossen und jagt uns durch seine von lärmenden Gitarren angefeuerten Emotionen von jugendlichem Verliebtsein bis Midlife-Crisis von Kater bis Rausch. Bis einer heult natürlich. Aufs Herz fallen tut immer noch weh, aber Husten hilft ein bisschen.
Die Ehre, das Festival im Zelt zu eröffnen, wird in diesem Jahr den Levellers zu Teil. Die britische Folk-Rock-Institution widmet das Gros der Setlist ihrem 1991er Erfolgsalbum „Levelling The Land“. Vom Anarcho-Punk-Anspruch der Anfangstage zeugen noch die mit Patches übersäten Jacken sowie die Clown-Kriegsbemalung ihres Didgeridoo-Spielers – ansonsten duellieren sich Violine und Gitarre und sorgen launige Hits vom Schlage „Beautiful Day“ für kollektiv im Takt wippende Füße und zufriedene Gesichter im gut gefüllten Zelt.
Jedenfalls ist es dann doch erstaunlich, wie viele Leute zu dem Auftritt von Mercury Rev zusammenströmen. Die Band – schon der Begriff Band ist irgendwie falsch – aus Upstate New York gewann mit „Deserter‘s Songs“ 1998 beinahe jeden Kritiker-Poll. Es waren herrlich weihnachtliche Klanggebilde, ein Reigen von Melodien ohne Songs. Dave Fridmann ist längst ein gefragter Produzent; er hat in diesem Jahr „Wild God“ von Nick Cave eingerichtet. Und jetzt, so viele Jahre später, beginnen sie ihr Konzert mit „Tonite It Shows“. Jeder im Publikum erinnert sich an „Deserter‘s Songs“. Mercury Rev haben nun eine Saxofonistin und sind ansonsten so etwas wie die amerikanischen The Cure. Oder wie eine feierliche The Band. Einst spielte Garth Hudson mit ihnen.
Und nun, an einem Samstagabend im Nieselregen an der Ostsee, spielen sie „Lovesick“ von Bob Dylan. Man dachte, dass niemand es nachspielen kann. Aber man kann es nachspielen, und man kann es schön nachspielen.
Nach der Irish-Folk-Rock-Party der Levellers und dem Hardcore-Indie-Krach von Cursive war das Zelt schon gut eingestimmt auf die zwei Haupt-Acts am ersten Abend – und beide hätten nicht besser sein können. Nachdem Jason Isbell zuletzt als Americana-Singer/Songwriter so erfolgreich war, ist fast etwas in Vergessenheit geraten, dass er ja mal als Gitarren-Wunderkind angefangen hat. Bei seinen Soli fiel es einem wieder ein, doch das Schöne an Isbells Band ist, dass alle Virtuosen sind, sie aber niemals miteinander konkurrieren, sondern sich immer in den Dienst der Lieder stellen – und wir sprechen hier immerhin von so talentierten Leuten wie Will Johnson und Sadler Vaden. Zwischen emphatischen Rocksongs wie „Death Wish“ und zarten Balladen wie „If We Were Vampires“ brauchte Isbell keine politischen Ansagen, um zu beweisen: Es gibt noch ein gutes Amerika.
Am Nachmittag blätterte Peter Doherty (schick im Jackett) schon am ROLLING-STONE-Stand in den Heften, schaute kurz bei der Band Husten rein und machte insgesamt einen aufgeräumten Eindruck. Auf der Bühne war er wieder der wunderbare Wilde, der seine Band dirigierte und zwischendurch etliche Songs allein mit der Gitarre spielte – das Beste der Libertines, der Babyshambles, seiner Solowerke. Er selbst schwankt vielleicht manchmal, seine Stimme ist unzerstörbar. Deshalb kann er es sich leisten, den immer noch sensationellen Hit „Can’t Stand Me Now“ nicht als Schlusspunkt zu setzen, sondern danach einfach weiter einen großartigen Song nach dem anderen zu spielen, darunter auch Wolfmans „For The Lovers“. Mehrfach zog er den Hut – vor sich selbst, so scheint es fast. Verdient!
Der Mann in der Menge mit Hut und Mantel, ja das ist Pete Doherty. Erneut. Er steht mitten im Publikum, in der vollgepackten Alm und schwenkt einen Fanschal, auf dem Big Special steht. Die Zwei auf der Bühne nehmen ihren prominenten Fan gar nicht wahr. Das Duo aus Birmingham spielt ein konzentriert energetisches Set – Joe Hicklin brüllt, rappt und singt mit leidenschaftlich vibrierender Stimme ins Mikro, als sei er eine Kreuzung aus Mike Skinner, Henry Rollins und Joe Cocker. Dabei schwillt seine Halsschlagader unter dem Tattoo bedenklich an. Hicklins Partner Callum Moloney drischt auf sein Schlagzeug ein und grunzt gelegentliche Kommentare. Das T-Shirt hat er ausgezogen und zeigt seine tätowierte Brust. Es ist das Sleaford-Mods-Prinzip minus Lakonie: Zwei Nordengländer, die sich den Kohlestaub kaum abgewaschen haben, ein Laptop, zwei Mikros (und ein Schlagzeug). „This year’s been a belter shithouse“, singspricht Hicklin. Volltreffer! Für eine Parole liegt zu viel Vibrato drin, und das macht es so unnachahmlich gut.
Stuhlkonzertatmo im Baltic-Saal. John Grant testet die Aufmerksamkeitsspanne des Beach-Publikums mit einem, nun ja, intimen Set. Begleitet wird der amerikanische Songschreiber lediglich von einem Mitmusiker am Synthesizer, der jedoch kaum zum Zug kommt. Grant spielt seine Hass und Homophobie, Liebe und Gewalt sezierenden Balladen stoisch herunter. Höhepunkte? Kaum auszumachen. Der Mann hat schlechte Laune. Wie ein miesepetriger Hotelpianist. Grant ist wütend über den Ausgang der US-Wahlen. Und auf technische Probleme während des Konzerts. Es wirkt, als würde sich der Künstler gern einige Wochen wegen Weltschmerz krankschreiben lassen. Ein harter Fan-Kern vor der Bühne feiert ihn dennoch. Vielleicht muss man einfach nur ein bisschen wütender sein, um diesen Auftritt gebührend zu würdigen.
Für Kevin Morby ist der heutige Auftritt der letzte seiner aktuellen Tournee. Entsprechend eingespielt sind der 36-jährige texanische Singer-Songwriter und seine kongeniale Band. Bemüht man die schon früh angebrachten Dylan-Referenzen erneut, erleben wir Morby, der sich schon von einer New-Hollywood-Film-Perle wie Bob Rafelsons „Five Easy Pieces“ zu seiner gleichnamigen Song-Hommage inspirieren ließ, grad in der Budokan-Phase, denn sowohl Saxophon als auch Querflöte spielen im Wechsel auf. Die druckvolle Darbietung, die den sympathischen Künstler zum Ende des Sets ans Klavier verschlägt, schielt mal in Richtung Jazz, versteht es zuweilen aber auch Jam-Band-Terrain zu streifen, ohne dabei ihre Verwurzelung im (Indie-)Folk zu vernachlässigen.
Der an J.J. Cale erinnernde Laid-Back-Sound von Wayne Graham aus Kentucky ist trügerisch smooth. Manchmal bricht er in twangige Gitarrensoli aus. Oder in hinreißenden Harmoniegesang. Die Band um die Brüder Hayden und Kenny Miles kann im Prinzip alles, was das Americana-Herz begehrt: Countryballaden, Folk-Stomper, psychedelische Rockmusik. Und sie beherrschen diese Handwerkskunst ohne große Posen. „Some Days“ gerät live noch Jackson-Browne-mäßiger, „A Silent Prayer“ noch Wilco-esker. Wayne Graham könnten auch als Eagles- oder Allman-Brothers-Coverband durchgehen. Dass sie selbst schon ein paar Songs geschrieben haben, die sich vor den Giganten, auf deren Schultern sie stehen, nicht verstecken müssen, wird an diesem Abend deutlich.
Es war an Hannah Merrick und Crai Whittle aus Liverpool als um Rhythmusgrppe erweitertes Duo King Hannah, die erwartungsvolle Menge auf den zweiten Beach-Abend einzustimmen. Sie ließen sich Zeit, begannen mit dem atmospärischen, unterkühlten Narrativ „Somewhere in El Paso“. Merrick gab im roten, aufgerüschten Kleid die coole Chanteuse, Whittle, mit Fanellhemd und Wollmütze im Neo-Grunge-Outfit, spielte sich gaaanz langsam und immer lauter werdend mit schroff-wuchtiger Jay-Mascis-Gitarre in den Vordergrund, bis die ersten Verzückungsjauchzer und Szenenapplaus ihm bedeuteten, dass er die Zuhörer an der Angel hatte. Die nächste Stunde surften King Hannah auf einer Welle der Begeisterung, und als sie die Bühne nach dem vorzüglichen „Big Swimmer“ verließen, waren sie ähnlich berauscht und glücklich wie das Publikum, das sie zurückließen. Es würde für die nachfolgenden Bands schwer zu toppen sein, oder?
Vor etwas mehr als 30 Jahren war Evan Dando mit den Lemonheads der König des Indie-Pop. Sein Vermächtnis ist nicht verblasst. Er hat mit Liedern wie „The Great Big No“, „Stove“ oder „Confetti“ einige der größten Hymnen der 1990er verfasst. Unglaublich, leider, dass sein Solokonzert im Baltic-Saal so dürftig besucht ist. Vielleicht zu einem Viertel gefüllt. Spielt aber auch keine Rolle. 75 Minuten lang spielt der weizenblonde Hüne auf der Akustikgitarre seine Hits, dazu Coverversionen. Er singt nicht mehr so klar wie früher, aber erstaunlicherweise singt er, elektronisch nicht verstärkt, besser als mit Triobesetzung. Vielleicht, weil er als Solist nicht gegen eine Band ansingen muss. Hätte, hätte, hätte – was hätte noch aus ihm werden können, wäre er, um 1996 herum und noch keine 30 Jahre alt, nicht abgestürzt. Seine Alben ließen nach. Auch zum Baltic-Saal an sich gibt es unterschiedliche Meinungen. Aber eines bleibt immer toll: Hier findet der Soundcheck vor Publikum statt, und Evan Dando gab sich maximal konzentriert.
So wuchtig kann ein Trio klingen! Das war das Erste, was auffiel, als Jake Bugg mit seinen beiden Kollegen die Zeltbühne betrat – und wie groß so ein kleiner Typ sein kann. Der Brite spielte ein mitreißendes, kurzweiliges Set aus ziemlich harten Rocksongs und seiner recht eigenen Vorstellung von Folk. Selten brauchte er viel mehr als drei Minuten, um mit seinen Gitarrenkünsten und dieser unverkennbaren Stimme auf den Punkt zu kommen. Zartes wie „Simple Pleasures“ mischte sich herrlich mit Schwungvollem wie „Lightning Bolt“, neue Hymnen („I Wrote The Book“) kamen genauso gut an wie Fast-schon-Klassiker („Seen It All“). Aber über allem wird immer „Two Fingers“ thronen, ein Song für die Ewigkeit.
Mit „„Auch für mich sechste Stunde“ begannen Kettcar das letzte Konzert bei diesem ROLLING STONE Beach – doch an ein Ende dachte in dem Moment niemand, eher an einen Aufbruch. Nichts tut in diesen miesen Zeiten so gut wie eine Band, die ihre Augen nie vor der Realität verschließt und einem doch die Chance gibt, mal eineinhalb Stunden einfach glücklich zu sein und Energie zu sammeln – weil man eben unter sich war: Tolle Musik, tolle Menschen, große Freude.
Bassist Reimer Bustorff erzählte lustige Geschichten von seiner „Mudder“, Sänger Marcus Wiebusch sagte naturgemäß die ernsteren Stücke an, es gab starke Politsongs und berührende Liebeslieder und dazwischen nach 18 Jahren auch mal wieder das Stück „Einer“. Es blieb kein Wunsch offen. Zum Finale noch „Landungsbrücken raus“ und „Deiche“, der Weissenhäuser Strand wurde praktisch zum Vorort von Hamburg, und wer jetzt die Arme nicht in die Höhe warf oder bei jemand Anderem im Arm lag, dem war nicht mehr zu helfen. „Aufstehen, atmen/ Anziehen und hingehen/ Zurückkommen, essen/ Und einsehen zum Schluss/ Dass man weiter machen muss.“ So ist das. Danke für die Pause vom Alltag, wir sehen uns im nächsten Jahr!