Rövver noh Tanger, zum Eigelstein zurück
Als in Köln dunkle Wolken aufzogen, schaffte sich Wolfgang Niedecken erst einmal Luft. Nach der Psycho-Hygiene in Marokko wehte dann auch bei BAP ein anderer Wind.
Köln-Eigelstein und Tanger sind nur fünf Tracks voneinander entfernt – im Road-Song „Röwer noh Tanger“ nämlich und dem kölschen Lokalkolorit von „Unger Krahnebäume“, beide auf dem neuen Album „Sonx“. Verbunden sind das „Millionendorf am Rhein“ und die marokkanische Hafenstadt durch eine Art Weltstraße, die Niedecken wie einen kaum sichtbaren roten Faden durch seine gesamte Arbeit laufen lässt. „Sonx“, sinnigerweise das erste BAP-Album seit 25 Jahren, das in Köln aufgenommen wurde, thematisiert ein fast schmerzhaftes Fernweh so explizit wie nie. „Da geht’s um das Runterfahren, die Vorfreude, das Rekapitulieren der Erfahrungen, die man bisher gemacht hat – musikalisch ist da ein Druck drin, der klar macht: Du willst jetzt einfach dahin…“, beschreibt Niedecken bei unserem Kamingespräch im heimischen Wohnzimmer die Ausgangsposition. Das Ziel seiner letzten Marokko-Reise ist allerdings auch immer greifbar: „Den Kopf leeren von Zwängen und Verpflichtungen, frei denken und fließen lassen können…“
Seit vielen Jahren setzt sich Niedecken regelmäßig zur Psycho-Hygiene nach Nordafrika ab. Den dreiwöchigen Trip im Mai 2003 machte er diesmal mit seinem Freund und neuen geschäftlichen Berater Manfred Hell, dem Chef der Outdoor-Marke Jack Wolfskin. Stolze 8000 Kilometer im betagten Volvo legten beide dabei zurück: „Wir sind bewusst von Köln aus mit dem Auto gefahren, um mal wieder die Distanz zu spüren. Und um zu sehen, wie sich die Strecke verändert hat.“
Für die „Flucht nach Süden hatten sich aber auch reichlich rationale Gründe angesammelt: Das unverschuldete Schlingern des BAP-Managements Ende 2002 hatte ein mitleres finanzielles Beben zur Folge, das die Künstlernatur Niedecken fast täglich an den Schreibtisch fesselte. Fast gleichzeitig beging der BAP-Kronprinz, Multi-Instrumentalist Jens Streifling, „Faschings-Fahnenflucht“. Das neben Gitarrist Helmut Krumminga zum Haupt-Songwriter avancierte Bühnentier wechselte ausgerechnet zur bestgehassten Karnevals-Combo De Höhner – und hinterließ eine fassungslose Band, die sich zuvor schon schweren Herzens von Sheryl Hackett (Percussion, Background-Vocals) getrennt hatte. Jens‘ Abgang war eine Geld-oder-Liebe-Entscheidung, damit ist das Thema für mich durch“, meint Niedecken. Im Studio begriff die „Restband“ das Drama schnell als Chance: „Nach dem verspielten Hippie-Album „Aff un zo“ konnten wir unseren Sound entschlacken und unseren Helden wie den Stones oder Kinks huldigen – ohne irgendwelche ABM-Arrangements für den Multi-Instrumentalisten berücksichtigen zu müssen.“
Trotzdem lässt der Blick zurück die Zornesader immer noch leicht anschwellen: „Dieser Abgang hat mich menschlich tief getroffen, weil so viel Illoyalität im Spiel war.“
Deshalb Themawechsel, zurück nach Marokko, zu nordafrikanisch inspirierten Foto- und Kunstbänden: Insgesamt war Niedecken gut 15 Mal in Marokko mal mit Freunden, mal mit den fast erwachsenen Söhnen, dann auch mit der neuen Familie inklusive der zwei kleinen Töchter. „Es ging auch mit den Mädchen wunderbar. Dann fliegst du bis Marrakesch, bleibst da zum Eingrooven und gehst dann an die Küste. Da bist du gut aufgehoben und safe, hast aber trotzdem tolle Sachen gesehen.“
Ein Marokko-Trip ging sogar auf Spesen, als Niedecken mit den Clip-Päpsten DoRo im Januar 1994 das Video zur Zugvögel-Nummer „Paar Daach froher“ („Pik Sibbe“) unter anderem auf dem „Platz der Gehenkten“ in Marrakesch drehte – fast gleichzeitig wie Jimmy Page und Robert Plant, die im selben Jahr ihre opulenten orientalischen Gelüste unplugged auslebten. „Der Video-Dreh hat mir viel geholfen für spätere Reisen, weil die DoRos einheimische Organisationstalente besorgt hatten, die einen auch an Plätze brachten, auf die man selbst nicht kommt. Das hat mich ermutigt, das Land noch weiter auszuloten.“
Die marokkanischen Abenteuer anderer Rockstars von Jimi Hendrix bis Cat Stevens, die zeitweise Zuflucht im Musiker-Mekka Essaouira suchten, waren aber nie entscheidend für die Niedeckensche Obsession: „Wichtiger sind die Beat-Generation-Schriftsteller – Ginsberg, Burroughs, Kerouac und vor allem Paul Bowles. Man wusste natürlich, dass die Stones mal da waren, und dass Brian Jones die „Pipes of Joujuka“ aus dem Rif-Gebirge verbraten hat.
Aber sein Interesse für marokkanische Musik kam ja erst auf, als er schon fast aus der Band war…“
Seine Bindung an Marokko hat die Beziehung zu jedem BAP-Mitglied (und zu jeder Frau) überdauert: Als 1979 „andere Kölsche Leeder“ gerockt wurden, war das nordafrikanische Vorzeigeland längst mit einer Form von Verheißung besetzt: „Doch du Maria heiß Marokko“, heißt es da in „Liebesleed“ über die amtierende Idealfrau – die erste Marokko-Reise sollte da noch sieben Jahre auf sich warten lassen. Die Verheißung ist ungebrochen. Und schließlich findet sich unter den „Sonx“ „Für Maria“, das einen Bogen zu den Anfangen vor 25 Jahren schlägt „Ich habe immer von Marokko geträumt“, sagt Niedecken. „Weil ich es aus einer sehr direkten, zweiten Hand verfolgen konnte – durch meinen viel zu früh verstorbenen Malerfreund Michael Buthe.“ Der hat jeden Winter in seinem Haus in Marrakesch verbracht, und den Sommer in Köln gearbeitet „So zu leben, das war ein kleiner Traum von mir.“
Zumal der studierte Kunstmaler Niedecken wie jeder visuelle Künstler seit den Marokko-infizierten Delacroix oder Matisse von der visuellen Kraft und dem fantastischen Licht Nordafrikas magisch angezogen wird: „Dieses unbekümmerte Aus-dem-Vollen-Schöpfen mit ganz einfachem Material, das auch Buthe praktiziert hat, gefiel mir schon immer.“
„Röwer noh Tanger“ reißt dieses Phänomen an und beschwört verschiedene Künstler als Zeugen für die Faszination von Niedeckens gelobtem Land herauf: „Delacroix, Buthe, Matisse, Bowles oder Burroughs die sind ja alle aus dem gleichen Grund da hin: Marokko ist etwas Erreichbares und trotzdem ungeheuer exotisch.“
Ob er nun eher als Maler oder als Musiker von der sinnlichen Offensive angetriggert wird, ist sekundär: „Das fließt ineinander, es ist ja derselbe Mensch. Licht und Helligkeit verursachen eine Stimmung, die Bilder und Lieder prägen.“ Ein Stück wie „Ich wünsch mir, Du wöhrs he“ verdankt Marokko seine Leichtigkeit. „Die Schwere, die Sachen in Deutschland zwangsläufig bekommen, fehlt hier.“
Nun machen zwei Marokko-Songs und eine Schlangenbeschwörerflöte auf „Et ess vorbei“ noch kein Konzeptalbum aus dem Rif-Gebirge. Doch die Arbeitsweise des notorischen Mosaikstein-Sammlers auf der never ending-Materialsuche schafft fast zwangsläufig eine Klammer zwischen den 14 „Sonx“, markiert die Weltstraße zwischen Köln-Eigelstein und Tanger, schafft Bezüge zwischen dem Studio 301 im tristen Genossenschaftsbauviertel von Bickenfeld und der Jam-Session mit drei Handwerkern in Tamnougalt „Was mir passiert, was ich erlebe, findet Niederschlag in Texten und Songthemen“, beschreibt Niedecken seine Methode. „Das kann eine Fahrt mit der Straßenbahn ins Büro sein – da erzählen mir Gesichter in der KVB genauso Geschichten wie in Marokko. Das ist ähnlich wie bei dem Springsteen-Song über den großen Zaun zwischen Mexiko und Kalifornien – so etwas haben wir auch: das Mittelmeer.“ Und die Gesichter der hungrig aussehenden jungen Männer in den Hafen-Cafes mit Blick auf den Felsen von Gibraltar sprechen für sich: „Die Jungs sind in dem Alter, wo du genau weißt: Die wollen anders leben, Geld verdienen, ihre Familien unterstützen. Die wollen da rüber… egal zu welchem Preis. Und das ist nur einen Millimeter von der Fahrt in der KVB entfernt, wo ich die Menschen sehe, die vielleicht gerade arbeitslos geworden sind.“ Heraus kommt dabei eine fast brutale Momentaufnahme bundesrepublikanischer Gegenwart wie „Einfach ussortiert“.
Über seine Einflussmöglichkeiten macht sich der gern als Gutmensch geschmähte Niedecken wenig Illusionen: „Ich bekomme natürlich keine konkreten Probleme gelöst. Aber vielleicht sensibilisiert ein gelungenes Lied die Menschen wieder dafür, dass sie sich füreinander interessieren. Vielleicht schaffe ich irgendwas, mit dem ich die Menschen vor dem Resignieren bewahre.“ BAP seien bei weitem keine so engagierte Band, wie ihr Image das glauben machen mag, sagt Niedecken. „Ich schreibe so gut wie nie einen Text, um etwas zu bewirken. Ich habe immer nur formuliert, was uns selbst bewegt.“
Während solche Sätze nachhallen und man über klassisch gewordenen Polit-Deutschrock wie „10. Juni“ oder „Kristallnaach“ spricht, schwenkt Niedecken ein wenig um: „Klar, Ausnahmen bestätigen die Regel: Auf diesem Album sind ja mit ‚Einfach ussortiert‘ und ‚Ein für Allemohle‘ zwei ganz klar zu identifizierende Politsongs. Sie denken laut drüber nach, ob unser System eigentlich richtig ist, wenn sich die Leute hier scharenweise selbst überflüssig machen.“ Das nennt er selbst zwar „eine Erkenntnis aus der Abteilung Steinzeit-Marxismus – aber so klar war es lange nicht mehr.“ Und dann wird es immer mehr. „Unger Linde, enn Berlin“, das 20 Jahre danach an die im Desaster versunkene DDR-Tournee erinnert, und „Unger Krahnebäume“ sind hoch politisch, von drei Stücken zum Irak-Krieg hat es nur eins aufs Album geschafft. Die Weltstraße endet nun mal nicht in Köln, auch wenn sich Niedecken als Songwriter und Maler bevorzugt in „unserem kleinen Mikrokosmos“ bedient. Aus dem treibt ihn die Neugier immer raus, nicht nur ins formal sozialistisch regierte, aber von Grund auf islamische Marokko – aber nicht erst seit dem 11. September scheint es dringend nötig, möglichst viel zur Verständigung und möglichst wenig zum clash of the cultures beizutragen. Aber auch diese unterstellte Intention wehrt Niedecken zunächst ab: „Ich würde mir zu viel Lorbeer ans Revers heften, wenn ich jetzt behaupten würde, dass ich durch meine Reisen zur Verständigung zwischen den Zivilisationen beitragen würde. Da ist schon ganz klar, was Ei und was Huhn ist“
Aber durch die Reisen seien Zuneigung und Verständnis für diesen Kulturkreis automatisch gewachsen. Mit Folgen zumindest für ihn. „Wenn ich sehe, wie die Erste Welt die muslimischen Staaten übervorteilt, dann beschämt mich das. Das kann man nicht machen, das ist nicht fair. Ich sehe die Menschen dahinter, weiß, wie die ticken, wie gedemütigt die sich fühlen.“
Immerhin hegt Niedecken die leise Hoffnung, mit den Berichten von seiner Faszination für Marokko andere Mitmenschen anzustecken – „auch wenn ich nun wirklich kein Missionar bin oder vom Fremdenverkehrsamt bezahlt werde“.
Die Schlussworte von „Ich wünsch mir, Du wöhrs he“ heißen „bess demnähx, Inch Allah!“ Und dass Wolfgang Niedecken Orte wie Paul Bowles‘ Chefchaouen, Rissani, das Ende der Asphaltstraßen und der Welt, das „biblische“ Draa-Tal oder die Musikgeschäfte und den einheimischen Pantoffelhändler und Dylanologen in Essaouira demnächst wiedersieht, ist wohl keine Frage – ob Allah nun will oder nicht.