Einsamkeit vs. kollektive Bequemlichkeitsverblödung
Rübensaft, Grobfleischwaren, rote Nudeln, grüne Nudeln – unser Kolumnist ist sich sicher: Die Ernährung bestimmt das Denken
Bin grade spazieren gegangen, zum frühen Abend hin, durch die bereits dunklen Straßen in Hannovers Innenstadt. Ich kam bei einem „Starbucks“ vorbei, und mir fiel auf, dass sich dort einige Leute mit Büchern aufhielten. Ein mittelalter Mann hatte es sich auf einer Bank gemütlich gemacht, seine Jacke ausgezogen, eine Tasse Cappuccino stand vor ihm, und er schmökerte in einem dicken Wälzer, den er vermutlich beabsichtigte hier durchzulesen. Das schockierte mich. Wie traurig muss es bei diesem Mann zu Hause sein, wenn er zum Lesen in einen amerikanischen Coffeestore gehen muss? In einen Coffeestore, der zwar auf individuell und persönlich macht, aber mit 32.000 Filialen einer weltweit verbreiteten Megakette angehört. Vermutlich sind es jene auf purer Zuckerbasis hergestellten Produkte, die den Herren markentreu gemacht haben. Sobald er nach Hause geht, sinkt sein Blutzuckerspiegel so bedenklich, dass er umgehend zur Quelle des beruhigenden Rübensaftes retourniert.
Ich glaube, dass Ernährung direkt auf das Denken des Essers einwirkt. Die Materialien dringen aus den Speisen erst in unsere Körper ein, werden verstoffwechselt und verwandeln sich dann in Gedanken und Sprache. Ein Beispiel, um das zu verdeutlichen: Vor kurzem war ich abends zum Essen in einem Restaurant in der großen Kulturstadt Weimar. Neben meinem Tisch hatte sich eine größere Gruppe Rentner niedergelassen, vermutlich aus Hessen oder Schwaben, ich konnte ihren matschig- wabbeligen Dialekt nicht genau zuordnen. Die meisten trugen dreiviertellange Hosen in grau und beige, dazu rosa/türkise Hemden und Khakiwesten darüber. Die Haare waren bei allen ordentlich kurz geschnitten, das einzige geschlechtliche Unterscheidungsmerkmal war, dass die Weibchen ihre Haare rot gefärbt hatten, während die Männchen ihr natürliches Grau in den Haaren und einem Schnauzer unter der Nase trugen. Es wurden tellerweise Wurst und Grobfleischwaren aufgetafelt (natürlich ohne Beilagen) und mit den adäquaten Mengen an Herrenbier und Damenroséweinen einnahmegeschmeidig gemacht, um sie in den Körper aufnehmen zu können. Ein interessantes Gespräch hatte sich zwischen ihnen entwickelt.
„Du, Berlin, des is ja ne wilde Gegend, isch sage dir!“
„Ah jo, des stimmt, da is was los!“
„Du, aber alle Völker der Welt, du – und laut isses da, hahaha.“
„Gaby, haha, schau mal, isch hab eine grüne Nudel zwischen meine rode!“
„Nein, das gibt‘s ja nid, Peter, schau mal zu Brigitte, die had ne grüne Nudel zwische ihre rode!“
„Zeisch mal Brigitte! Hahahaha, des gibt‘s doch garnid!“
„Renate, wart ihr schon mal in Breme?“
„Nein, in Düsseldorf.“
„In Düsseldorf, ja und wie hat‘s Eusch gfalle?“
„Schön, mir ware danach noch in Rom.“
„Ah jo, was habt ihr in Rom gemacht?“
„Zwei Woche ware mir da!“
„In Rom hat‘s jede Menge Geschäfte, Saturn, un laudä solsche Sache.“
„Rom, des is de Hammä!“
„Gaby, haha, schau mal, isch hab wieder ne grüne Nudel zwischen meine rode!“
„Nein, das gibts ja nid!“
An dieser Stelle begann das Gespräch geheimnisvollerweise immer wieder von vorne. Der Begriff „kollektive Bequemlichkeitsverblödung“ drängte sich mir auf. Dann bemerkte ich: diesen Leuten ging es gut, sie waren entspannt, gelöst, womöglich sogar glücklich, ich hingegen saß einsam und grüblerisch an meinem Tisch neben ihnen und fällte Urteile. Was war jetzt der lebenswertere Zustand?
Autorenbild von Kerstin Behrendt