Rock’n’Roll-Kindergeburtstag in der Hölle – Kiss liebt dich, Berlin

Drin ist, was drauf steht – bei Kiss knallen routiniert die Explosionen und fließt obligatorisch das Blut. Dafür lieben sie ihre Fans.

„You wanted the best, you got the best!“ – mit dem zum Klassiker gewordenen Kiss-Slogan fällt das Banner mit dem Bandnamen. Manege frei im „Psycho Circus“!

Vor dem Konzert habe ich leider keinen Überfall verhindert und an keinem Strip-Wettbewerb teilgenommen. Meine Unschuld habe ich auch nicht kurz zuvor in einem Beichtstuhl verloren. Deswegen ist wohl der Moment, als Kiss die Bühne betreten, nicht so magisch wie für die vier Jungs in der Kiss-Film-Hommage „Detroit Rock City“, in der die sich den Weg zum Konzert ihrer Lieblingsband erschleichen wollen. Die Waldbühne ist für mich nicht Ziel einer langen Odyssee, sondern nur einer entnervenden S-Bahn-Fahrt.

Vielleicht liegt es aber auch an der ZDF-Fernsehgartenatmosphäre, die die überdachte Bühne im Open-Air-Amphitheater bei Tageslicht ausstrahlt. Die ersten Songs, bei denen hinter den maskierten Musikern schon die Feuerfontänen knallen, wirken wie eine Stuntman-Show im Freizeitpark. Leider spielt sich ein Großteil des Konzerts im nüchternen Licht des ausklingenden Tages ab. Und so betrachte ich aus der Draufsicht erst einmal ganz sachlich, was sich auf der Bühne abspielt.

Bei den ersten beiden Stücken, „Psycho Circus“ und „Shout It Out Loud, schenken Gene Simmons, Paul Stanley und Tommy Thayer den Fotografen die Motive, die sie brauchen, posen abwechselnd und miteinander am Bühnenrand. Schlagzeuger Eric Singer im Katzen-Make-up ist von dort aus gar nicht zu sehen. Die Fotografen halten von der ohnehin sehr hohen Bühne den angewiesenen Abstand. Vor ihnen ist die ganze Bühnentechnik aufgebaut – Nebelmaschinen, Gasflaschen und Konfettikanonen. Keiner will aus Versehen zum falschen Zeitpunkt am falschen Fleck stehen – mitten in der Pyro-Anlage.

Damit der Band das ebenfalls nicht passiert, wandern Bass-, Lead- und Rhythmus-Gitarrist von einem auf dem Boden markierten Kästchen zum anderen. Jeder mal eher rechts, links und in der Mitte, damit man aus dem Publikum alle mal sieht – echte Profis, aber alles sehr vorhersehbar. Einige der abgetrennten Flächen entpuppen sich als schwenkbare Hebebühnen, auf denen Gene und Tommy später über den Köpfen des Publikums schweben werden. Auch Eric Singers Schlagzeug fährt zwei mal wie mit Raketen angetrieben nach oben. Langsam fängt die Sache an Spaß zu machen.

Einer der musikalischen Höhepunkte ist ein kurzes Twin-Guitar-Solo bei „Detroit Rock City“. Souverän, aber nicht wirklich anspruchsvoll. Aber um die Musik ging es bei Kiss sowieso nie. Im Backkatalog haben sie auch ziemlich viele seichte Songs. An diesem Abend gibt es vor allem die druckvollen, eingängigen Hits zum Mitsingen: „God Of Thunder“, „Rock And Roll All Nite“ und natürlich „I Was Made For Lovin‘ You“.

Flammen, Feuerwerksraketen und Konfetti – es ist wie ein Kindergeburtstag in der Hölle, auf dem sie alles auf die Spitze – und darüber hinaus – treiben, was zum Rock dazu gehört. Es gibt nicht nur ein bisschen Pyro-Technik, sondern Feuerkreisel und integrierte Flammenwerfer. Zum Finale ergießen sich Salven und Säulen aus Feuerwerk laut rhythmisch knallend in den mittlerweile dunkelblauen Berliner Nachthimmel. Die ganze Bühne flammt synchron auf, als Paul Stanley schwungvoll ausholt und seine Gitarre auf dem Boden zertrümmert, dass die Funken fliegen.

Tommy Thayers Les Paul wird bei seiner Soloeinlage buchstäblich zur Love Gun. Die Bühne für sich, nur unterstützt von Eric Singer an den Drums, lässt er sie aufheulen. Am Halsende reibt er die Saiten mit den Fingern und lässt den verzerrten Ton vibrierend in der Luft stehen. Die Spannung im johlenden Waldbühne-Publikum steigert sich, bis er mit einem Knall aus dem Hals der Gitarre Funken schießt. Immer wieder das gleiche Spiel. Die Kunstpause wird gefühlt mit jedem Mal länger. Eindeutiger kann man die Gitarre nicht als Phallus-Symbol inszenieren.

Auffälliges und ausgefallenes Styling und gekonnte Selbstinszenierung gehören zu einem Rockkonzert dazu – mal mehr, mal weniger subtil. Die vier Bandmitglieder spielen ihre Rock’n’Roll-Figuren mit vollem Einsatz, fast pantomimisch und mit ausholenden Gesten – wenn die Extremitäten dazu nicht mehr ausreichen, wird eben die Bühnentechnik zu Hilfe genommen. Starchild Paul Stanley stolziert als androgyner Frontmann die Hüften schwingend auf und ab. Für die Frauen in der ersten Reihe geht er auf alle viere und jongliert mit seiner Zunge lasziv das Gitarrenplektrum. Gene Simmons züngelt als dämonisch-lüsterner Barbarenfürst, wie man es von ihm erwartet. Ebenfalls Pflichtprogramm: beim Bass-Solo lässt er das Kunstblut aus den Mundwinkeln und über die unmenschlich lange Zunge laufen und ergänzt seine Maske um ein bluttriefendes, rotes Kinn.

Ohne Maske sah man Kiss eine Zeit lang in den 80ern. Nicht nur, weil sie auch ohne Make-up noch frisch aussahen, konnten sie damals auf diese übertriebene Weise performen, ohne mit der Maske deutlich zu machen: Theater, Theater! Es war die Zeit der Hair Metal-Bands, die sich ohne Zweifel stark von Paul Stanleys Bewegungen und von Kiss’ Glam Metal inspirieren ließen.

So auftreten, die Beine in breitbeinigen Posen und Spandex-Hosen, dürfen heute nur noch Steel Panther. Die Band aus L.A. nimmt den Glam Metal und seine Klischees auf die Schippe und sich selbst nicht allzu ernst. Das Konzert wird zu einer parodistischen Party. Kiss-Shows hingegen sind nicht ironisch motiviert, es wird sich nicht lustig gemacht über die Klischees.

Es ist wie beim Wrestling – Kiss werden gefeiert, mit Plateausohlen größer gemacht und für die große (Wald-)bühne inszeniert. Kiss nehmen die Show ernst. Und die Fans danken es ihnen. Nicht umsonst gibt es eine Kiss-Army, die in Scharen – teilweise in Kriegsbemalung, vereinzelt in voller Rüstung, als Kiss-Doubles – die Tribüne füllte.

„Kiss loves you, Berlin“, stand am Ende auf der Videowand.

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