Road Show
Sieht so der Proto-Popstar aus? Trägt er eine Pottfrisur, schlecht sitzende Jacken und unkontrollierten Bartwuchs? Ian Broudie gähnt gern mit weit geöffnetem Mund, er hängt an seiner Sonnenbrille und manchmal wirkt er, als könne ihn nichts, aber auch wirklich gar nichts motivieren, jetzt etwas zu unternehmen. Oder zu sagen. Oder zu arbeiten. Aber zumindest dieser letzte Eindruck täuscht. Man hat es hier immerhin mit einem Mann zu tun, der seit 23 Jahren Musik macht, schon 1980 – mit gerade mal 21 – Alben von Echo 8C The Bunnymen produzierte und 1989 die Lightning Seeds gründete. Vorher waren all seine Projekte mehr oder weniger schnell gescheitert: Die Mitglieder der Punkband Big In Japan liefen zu Siouxsie & The Banshees und Frankie Goes To Hollywood über, die Popgruppe Care verabschiedete sich 1984 nach nur drei Singles.
1990 wendete sich alles zum Guten: „Cloudcuckooland“ erschien, das Meisterwerk einer Ein-Mann-Band, und es war erst das Debüt der Lightning Seeds – größtenteils im Schlafzimmer geschrieben und zu Hause aufgenommen. Nein, Ian Broudie ist kein Faulpelz, sondern ein Arbeitstier. Seine Unfähigkeit zu relaxen („Ich weiß gar nicht, wie das geht!“) versteckt sich bloß hinter seiner Schüchternheit. Es scheint angemessen, dass der Mensch mit den zuckersüßen Melodien ausgerechnet in der Penny Lane in Liverpool geboren wurde – das zumindest passt prima in eine Popstar-Biografie.
Wer neben ihm noch bei den Lightning Seeds dabei war und ist, interessierte niemanden so recht. Die Band war immer Broudies Baby. Er schrieb die Songs, die Texte – und selbst der Name ist auf ein Missverständnis seinerseits zurückzuführen. Lightning Seeds heißen sie heute nur, weil er eine Songzeile falsch verstand: „The thunder hides what lightning sees“, sang Prince, und Broudie wusste, wie er sich nennen sollte – sowie die Kollegen, die irgendwann mal kommen sollten. Natürlich hätte er sich genauso für Thunder Hides entscheiden können. Vieles in Broudies Leben war eher ein Zufall, und meistens lief alles „verkehrt herum“, wie er gern zugibt: „Als ich gerade volljährig war, habe ich Bunnymen produziert, dann solo Karriere gemacht. Jetzt bin ich in einer Band.“
Bei der inzwischen angeblich sogar Mitspracherecht herrscht. Die Strukturen haben sich anscheinend gefestigt. Bassist Martyn Campbell ist bereits seit 1994 dabei, Gitarrist Paul Hemmings (ehemals The La’s) kam kurz darauf hinzu, Keyboarderin Angie Pollack zwei Jahre später. Nachdem ihm Drummer Chris Sharrock absprang, engagierte Broudie einen, der schon bei ganz Großen getrommelt hatte: Zak Starkey war nicht nur bei Vater Ringo Starr in die Lehre gegangen, sondern auch bei Keith Moon.
Fast eine All-Star-Band also, aber die Lieder schreibt natürlich trotzdem Broudie, und die Musiker erscheinen nur sporadisch als Band-Mitglieder auf Fotos und niemals bei Interviews. 1997 entschied Broudie sich, mit „Like You Do… Best Of The Lightning Seeds“ erst mal einen eindeutigen Schlussstrich zu ziehen. „Ein Greatest-Hits-Album symbolisiert immer ein Ende. Danach fängt man wieder ganz von vorne an. Das folgende Album, ‚Tilt‘, ist somit nicht der nächste Schritt, sondern der erste vom Rest“ Also feierte er erst einmal seinen 40. Geburtstag und verschaffte seinen Kollegen anschließend vorzeitig graue Haare.
Die ersten Proben zum neuen Album waren eine Katastrophe und die Band bald so genervt, dass Broudie Angst hatte, sie würde ihm geschlossen davonlaufen und nie wieder einen Aufnahmeraum mit ihm betreten. Zu unsicher war man, wie es weitergehen sollte, zu unausgegoren klangen die Versuche, neue Sounds zu integrieren. Mit Loops und Samples kannte Broudie sich zwar aus, aber so richtig moderne Musik war bislang auch nicht seine Welt Aber hin und wieder schlichen sich dann ein paar kleine Melodien ein, die allen gefielen, die Melodien wurden zu Stücken, und bald war „Tilt“ fertig. Manches klang zwar gar nicht wie die Lightning Seeds, doch das störte Broudie nicht im Geringsten. „Nach zehn Jahren muss man mal wieder was Neues wagen. Man kann doch nicht ewig die Beatles hören und sich an ihnen orientieren, so sehr man Pop liebt“ Gleichzeitig wollte er nicht auf einen Schlag alle alten Fans vergraulen. „Eine hundertprozentige Dance-Platte war für uns keine Alternative, das hätte man uns doch nicht abgenommen. Aber die Technik und die Einstellung, die Bands wie Underworld haben, interessieren mich neuerdings sehr. Dagegen finde ich Gitarren inzwischen eher langweilig.“ Was ihn freilich nicht daran hindert, sie weiterhin zu benutzen. Alt und neu, geschliffen und wirr – Broudie gelang es, mit seiner ihm eigenen Harmoniesucht selbst die größten Widersprüche zu einem stimmigen Album zu vereinen.
Zur Beratung holte er sich Stephen „Babybird“ Jones, Terry Hall und Mike Pickering (M People) ins Studio, und auf der aktuellen Single „Sweet Soul Sensations“ sampelt er AI Green – Broudie weiß halt, wo er kompetente Hilfe finden kann, wenn er mal selbst nicht mehr weiter weiß. Aber natürlich passiert das so gut wie nie. Denn nach dem Hit ist vor dem Hit und darüber, dass ausgerechnet „Three Lions“ immer noch die Erkennungsmelodie der Lightning Seeds ist, kann sich Broudie nicht mehr aufregen. „Das Lied hat uns immerhin einen riesigen Popularitätsschub gegeben, wie man es von einer Fußball-EM-Hymne wahrscheinlich erwarten kann. Dabei gehört es nicht einmal zu unseren besseren Stücken. Aber Abba haben sich ja auch nicht beschwert als ,Waterloo‘ den Grand Prix gewann, obwohl es Dutzende schönerer Abba-Songs gab.“ Außerdem befindet sich ein Reim auf „Three Lions“, der auch das Hitpotenzial der Lightning Seeds beschreiben könnte: „I know that was then/ But it could be again.“ Bisher war die Trefferquote ziemlich hoch. Broudie selbst sieht ja zwischen einigen Liedern ungewollte Ähnlichkeiten: Seine Debüt-Single „Pure“, „Three Lions“ und „Life’s Too Short“ vom aktuellen Album fressen sich sofort im Ohr fest. Eine Qualität die man durchaus würdigen sollte: „It’s hard to be this simple“, weiß der Songwriter zu berichten. Seltsam, dass viele andere, ähnlich simple Seeds-Songs einfach durchs Gehirn gerutscht sind, ohne für immer dort hängen zu bleiben.
Andererseits – vielleicht ein Glück für Ian Broudie. Vielleicht hat er ja gar kein Interesse am weltweiten Erfolg. Bei der Vorstellung, von Kontinent zu Kontinent zu reisen, überkommt ihn jedenfalls jetzt schon Panik: „Ich würde es hassen, sterben zu müssen, und ich habe Todesangst vorm Fliegen.“