Rituale des Stillstands
Wenn die Tour de France im Fernseher rollt, kehrt in Büros und Wohnzimmern eine meditative Behaglichkeit ein
Nun keuchen sie wieder. Sie machen „Aaah“ und „Uuuh“ und wieder „Aaah“ und „Uuuh“. Kurze Atemstöße, die mit jeder Sekunde noch kürzer werden. „Aaah“ und „Uuuh“, ausgesandt in heiße Sommerluft, gesättigt mit perlendem Schweiß, getrieben von pumpenden Lungen und Herzen, die am Limit rotieren. Immer wieder „Aaah“ und „Uuuh“. Man hört es nicht, weil die Keuchlinge keine Mikrofone tragen, aber wer einmal den Beginn von Kraftwerks Tour-Hymne vernommen hat, dem ist sie im Gedächtnis geblieben. Alles nur, um am Ende ein quietschbuntes Hemdchen überstreifen zu dürfen.
Die Tour läuft. Vom Z bis zum 24. Juli rasen wieder schwitzende Männer mit glattrasierten Beinen über Frankreichs Straßen, und in genau dieser Zeit wird auch in deutschen Haushalten und Büros erneut jener Eahrradboom einsetzen, der schon in der Vergangenheit den wahren Erfolg einer medial aufgeplusterten Fototapete markierte.
Normalerweise würde es niemanden interessieren, wenn Herren unschuldige Leichdaufräder und sich selbst quälen, wenn Hubschrauberkameras hinabfilmen auf ein ameisengleiches Gewirr, wenn dumpfbackige Zaungäste der Ideallinie gefährlich nahe kommen und auch schon mal regelwidrig am Trikot der Athleten zupfen. Vom Normalfall kann aber keine Rede sein, weil ARD und ZDF die Tour brauchen, um im Sommer ihre Quoten über die Nachmittagswerte einigermaßen im Lot und damit den Konkurrenten RTL auf Abstand zu halten.
Der hat ein ähnlich sinnfreies Programm im Angebot, doch sehr zum Leidwesen der Werbeeinnahmenkassierer rasen die Helden der Formel 1 nur alle zwei Wochen im Kreis herum und machen jenen Höllenlärm, über den dann ausgebildete Kommentatoren verbal jene Spannung gießen, die Bilder nicht bieten können.
Um es mal ehrlich zu sagen: Die Formel 1 ist mindestens genauso langweilig wie die Tour de France, und nur durch das Fernsehen wird ein Ereignis draus, wird das Gefühl simuliert, direkt dabei zu sein, hautnah miterleben zu können, wie andere sich schinden.
Zu sehen ist bei der Tour de France stundenlang nichts von Belang. Da fahren Männer im Pulk, und gelegentlich wagt mal einer einen Ausflug. Man würde das achselzuckend hinnehmen, wären da nicht die bewährten Kommentatorenkräfte von ARD und ZDF, wären da nicht die Nonsensschleudern Hagen Boßdorf, Herbert Watterott und Peter Leissl, die zwischen Fromentine an der französischen Atlantikküste und dem Ziel in Paris ihren sahnig gerührten Senf zu allen erdenklichen Aktionen geben. Sie haben einen verdammt schweren Job zu erledigen, denn ihnen obliegt es, ein stundenlanges Nichts in Spannung zu verwandeln.
Manchmal funktioniert das aber nicht mit der Spannungssimulation. Dann lesen die Sprecher ungefragt von ihren Spickzetteln ab, welche Kirche warum und seit wann in welchem Dorf steht und daß die Tour 3607 Kilometer lang ist. Unnütze Information hagelt es da auf den Zuschauer nieder, und eigentlich müßte er sofort abschalten, weil jede Gerichtsshow bei RTL mehr Dramatik bietet Doch der Reiz der medial aufgearbeiteten Tour de France liegt in Wahrheit gar nicht im Drama, der Reiz liegt in der Gleichförmigkeit. Tournachmittage zwischen eins und halb sechs strukturieren endlose Tage auf wundersame Art. Sie tragen eine besondere Form der Gelassenheit in Wohnzimmer und Büros. Stundenlang kann der Fernseher laufen und als bewegte Tapete dienen. Man weiß, daß nichts passiert, wenn sich keine Stimme hebt. Man weiß auch, daß man hört, wenn etwas passiert. Man weiß auch, daß das einzige Stückchen Spannung erst gegen fünf Uhr aufkommt, wenn Erich Zabel wieder mal nur als Zweiter durchs Ziel geht Tour de France ist reine Besinnlichkeit, meditative Andacht für jene, die nicht raus dürfen in die Sonne.