Ringelpiez für Fortgeschrittene

Die Sängerin Anna Depenbusch erklärt mit Eifer und Witz die höhere Mathematik der Zwischenmenschlichkeiten.

Rot gefärbte Nickelbrille, Sechstagebart, dünnes zerzaustes Haar – Marius Müller Westernhagen sieht an diesem Abend aus wie ein John-Lennon-Imitator in der Mauser. Neben ihm auf der Holzbank der alten Schenke Schellfischposten am Hamburger Hafen sitzt Ina Müller und kündigt für jemanden, der sonst eher den Eindruck macht, das Moderationshandwerk auf dem Hamburger Fischmarkt erlernt zu haben, geradezu zärtlich den nächsten musikalischen Gast ihrer Show „Inas Nacht“ an. „Ganz selten kriege ich Lieder geschickt und muss beim Hören weinen, und jetzt gucken wir mal. Ganz ganz toll, Hut ab. Und drei, vier – Jungs.“

Und dann sieht man schlanke Hände über die Tastatur eines Klaviers gleiten und eine Stimme, in der mehr als nur eine durchweinte Nacht mit Rotwein und Schokolade steckt, singt „Der Rausch ist vorbei, und es schaukelt immer noo-och“, der Cellist streicht seinen Bogen, die alte Seemannskneipe schunkelt und wogt, ein hübsches mädchenhaftes Gesicht kommt ins Bild und schluchzt in ein Mikro: „Im Hausflur um viertel nach drei geht das Licht wieder aus/ Und ich kann’s nicht ertragen“, ein seekranker John-Lennon-Imitator starrt an die Decke, eine beseelt wippelnde Ina Müller singt leise (!) mit, die junge Sängerin hat ihre Augen geschlossen: „Und ich kann’s nicht ertragen, dass du (ein Seufzer, so tiefseetief, dass es einen fast zerdrückt) sie liebst“, dann ein sehnsuchtsvoller Blick in die Kamera, und es ist um einen geschehen. Wer ist diese Frau? Und wo war sie mein Leben lang? Und hat sie noch mehr solcher Lieder?

Nachdem die letzten Zeilen verklungen sind und der Applaus in den letzten Akkord brandet, reißt die Müller einen unsanft aus der Verzückung „Anna Depenbusch! Das ist geile Scheiße!“ Ein John-Lennon-Imitator grinst ein bisschen irr („SEXY, was hast du nur aus diesem Mann gemacht? Nana nana nana …“) und Anna Depenbusch wirft Küsse ins Publikum, die sich am Fernseher leider nicht auffangen lassen.

Nun muss man zweierlei wissen. Erstens: Ina Müller bringt ihre Musik beim gleichen Label heraus wie Anna Depenbusch. 105 Music heißt es. Dort erscheinen auch die Platten von Annett Louisan und Stefan Gwildis. Handgemachte, wohltemperierte Jazzschlager – Manufaktummusik quasi. Und zweitens: Das spielt in diesem Fall überhaupt keine Rolle. Denn Anna Depenbusch kommt zwar im weitesten Sinne vom Jazz und, ja, die Arrangements auf ihrem zweiten Album „Die Mathematik der Anna Depenbusch“ sind wohltemperiert und handgemacht, aber trotzdem ist alles ganz anders. Irgendwas hebt diese Lieder über das Geschmackvolle, Gediegene hinaus, macht aus ihnen, nun ja, „geile Scheiße“.

Die Stimme spielt da sicherlich eine Rolle, die den Hörer emphatisch durch Chanson, Songwriter-Pop, Disco, Polka und Schlager führt. Sicher auch die Texte, die gewitzt und klischeefrei von allerlei Zwischenmenschlichem erzählen. Daher rührt übrigens auch der Albumtitel, eine Anspielung auf „Die Mathematik der Nina Gluckstein“, eine Novelle der argentinischen Autorin Esther Vilar, in der die Protagonistin tatsächlich glaubt, die Liebesformel entschlüsselt zu haben: „In einem Krieg der Frauen gegen die Männer würden die Männer verlieren, weil sie die Frauen mehr lieben als umgekehrt.“

Aber der eigentliche Grund für die Wirkung der Anna Depenbusch ist dieser keck vertraute Tonfall – irgendwo zwischen bester Freundin und connyfroboesshafter Unschuld -, der durch die irgendwie aus der Zeit gefallene adrette Erscheinung noch verstärkt wird und selbst ein Wort wie „Gelegenheitsfick“ irgendwie charmant klingen lässt. „Man muss halt eine stimmige Sprache finden“, sagt die 33-jährige Hamburgerin. „Da gibt’s so tolle Beispiele, also, etwa Gisbert zu Knyphausen – da passt alles perfekt, so würde er wahrscheinlich auch sprechen. Es darf nicht fremdartig oder konstruiert wirken. Wir sind Helden sind auch so ein Fall – wenn jemand anders diese Songs singt, klingt das immer komisch.“

Anna Depenbusch machte sich im Jahr 2002 auf die Suche nach ihrer eigenen Songsprache. Davor hatte sie Musik und Gesang studiert, in Hamburger Nachtclubs, bei „Top Of The Pops“ und bei der Band Orange Blue gesungen, sogar mal für Marianne Rosenberg Schlagzeug gespielt – allerdings im Vollplaybackmodus.

„Ich hatte dann als Sängerin einen guten Start“, sagt sie. „Tolle Engagements – aber irgendwann kam das Bedürfnis, nicht mehr länger nur so dienstleistermäßig zu singen, sondern eigene Songs zu schreiben. Doch ich habe auch gemerkt, dass ich noch nicht so weit war. Und da habe ich alles abgebrochen, bin nach Island gegangen, um irgendwas Neues anzufangen.“

Im isländischen Winter kam sie zu sich und lernte das Songschreiben, drei Jahre später erschien bei einem kleinen Hamburger Label ihr Debüt „Ins Gesicht“. Die Lieder waren noch ein bisschen zaghafter und verträumter als heute, mehr ins Ich als zum Du gesungen. Aber aus der Dienstleisterin war eine Songwriterin geworden, Anna Depenbusch und Band standen mit eigenen Songs auf den norddeutschen Bühnen.

Zum Leben hat das aber noch nicht gereicht, so machte sie nebenbei Theatermusik, programmierte Sounds, machte Remixe und bastelte Hörbeispiele für den Forschungszweig Synästhesie der Medizinischen Hochschule in Hannover. Von den Probanden, die im Kernspintomografen ihren Klängen lauschten, scheint sie viel gelernt zu haben über die Wirkung von Musik.

Die eigene Band war ihr dann irgendwann, als die großen Engagements ausblieben, einfach zu teuer. „Ich habe gemerkt, ich möchte schon meine eigenen Songs machen, es lässt sich finanziell nur überhaupt nicht realisieren“, so Depenbusch. „Ich muss dafür sorgen, dass ich die Kosten reduziere. Ich konnte die Band nicht mehr bezahlen und musste also die Konzerte alleine am Klavier spielen.“

Deshalb verordnete sie sich einen Intensivkurs am Klavier, für den sie sich einen Winter lang auf ein Schloss in der Nähe von Kiel zurückzog. „Ich hatte als Kind schon Klavierunterricht. Aber das war was ganz anderes. In diesem Winter habe ich wirklich jeden Tag stundenlang am Klavier gesessen, mir Song für Song ein Repertoire erarbeitet und eigene Lieder geschrieben. Ich dachte, es ist bestimmt nett, vor einem Publikum diese Geschichten zu erzählen.“ Einige der neuen Stücke lesen sich wie Briefe aus der Einsamkeit. „Astronaut“ zum Beispiel, ein Lied über einen Einzelgänger, dem die Menschen zu banal und die Welt nur zweite Wahl sind. „Du jagst nach Raketen und bunten Kometen/ Nur das Leben hier unten siehst du nicht/ Denn du schaust in die Ferne/ Du brauchst nur Sterne/ Astronauten sind gerne ganz für sich allein.“

Anna Depenbusch lacht. „Ich sitze da allein auf diesem Schloss, es schneit, ich habe seit 14 Tagen mit niemandem gesprochen und dann schreib ich dieses Lied und denke:, Du singst da doch gerade von dir selbst.'“

Allein am Klavier komponiert, verlangten diese Lieder doch eigentlich das große Drama. „Schon absurd“, meint Depenbusch. „In dem Moment, in dem ich die Sachen reduziert hatte und dachte, ich mach das jetzt ganz klein, damit ich davon leben kann, kommt eine große Plattenfirma und sagt:, Mach mal so, wie du dir das vorstellst.‘ Ja, okay, dann möchte ich viele unterschiedliche Musiker einsetzen, für jeden Song die Talente, die am besten zu ihm passen. Oh, und ein großes Orchester hätte ich auch gerne.“

Das Budget für die Aufnahmen war zwar schon viel größer als beim Debüt, aber für ein Orchester reichte es trotzdem nicht aus. Doch wo eine Depenbusch ist, da ist – so scheint es – auch ein Weg. Und so wandte sich die ehrgeizige Sängerin an die Initiative Musik, eine gemeinnützige Organisation, die im Auftrag der Bundesregierung den musikalischen Nachwuchs fördert. Bei einer Eigenbeteiligung von mindestens 60 Prozent an der Produktion, kann man da als junger Künstler einen Zuschuss zwischen 10.000 und 30.000 Euro bekommen. „Ich habe einen langen Antrag geschrieben und mein ganzes Konzept erklärt“, so Depenbusch. „Ich hatte eine ziemlich klare Vision. Das hat die Plattenfirma auch gemerkt. Okay, die weiß, was sie will – und die organisiert sich das Geld, das sie dafür braucht, selbst. Die Initiative Musik hat dann im Grunde das komplette Orchester finanziert.“

Mit all den Irrwegen und Fehlversuchen, die so eine erste eigene Produktion mit sich bringt, hat die Arbeit an „Die Mathematik der Anna Depenbusch“ knapp zwei Jahre gedauert. „Das hört man auch“, meint Depenbusch. „Da hat niemand gesagt:, Komponier jetzt mal in drei Monaten ein Album.‘ Einige Songs stammen aus dem Winter, andere habe ich erst im Sommer im Studio geschrieben. Wir haben im Hafenklang, schräg gegenüber vom Hamburger Fischmarkt aufgenommen. Und sonntags sah man von dort bei gutem Wetter die Pärchen an der Elbe entlang spazieren. Das hat mich zu, Tim liebt Tina‘ inspiriert.“ Dieser verspielt-verzweifelte Ringelpiez mit Anfassen eröffnet nun die amouröse Mathematik der Anna Depenbusch: „Tim liebt Tina, doch Tina liebt Klaus/ Wir lachen, wir leiden/ Verlassen und bleiben/ Wir leben und lernen daraus.“

„Ich würde meine Musik schon als Musik für erwachsene Menschen bezeichnen“, meint Depenbusch. „Es ist jedenfalls schön, wenn man mit den Themen, die ich da besinge, schon seine eigenen Erfahrungen gemacht hat. Ein blutjunger Teenager stellt sich die Dinge noch ganz anders vor.“

Mit der Mathematik der Anna Depenbusch lässt sich das ganz normale Chaos der Liebe jedenfalls besser ertragen.

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates