Richter demontiert Tuğçes Bild als Jeanne d’Arc
Der Fall Tuğçe schien klar: Hier die schöne Studentin, dort der tumbe Proll. Die Heldin der Zivilcourage und der Schläger. Doch der Prozess zeigt, dass die Geschichte jener Nacht komplizierter ist. Von Hannelore Crolly
Doğuş Albayrak hatte gerade geschildert, in welche Schockstarre der Tod von Tuğçe die ganze Familie versetzt hatte. Vater und Mutter arbeitsunfähig, der große Bruder Ulas außerstande, seine Lehre fortzusetzen, er selbst lasse sein Wirtschaftsstudium ruhen. „Es ging uns allen noch nie so schlecht“, hatte der 26-Jährige gesagt und seine kleine Schwester beschrieben als hilfsbereit, fleißig und zielstrebig, von großem Gerechtigkeitsempfinden getrieben. Tuğçe, erinnerte sich Doğuş an das Nesthäkchen der Albayraks, habe gern gelächelt. „Es war schön mit ihr.“
Da begann Richter Jens Aßling nachzuhaken. Seine Fragen stellte der Vorsitzende der Großen Strafkammer am Landgericht Darmstadt zwar in behutsamem Ton. Aber umgehend wurde durch ihre Richtung zum Auftakt im Prozess gegen Sanel M. deutlich: Aßling vermutet bei der Lehramtsstudentin offenbar eine gewisse Mitverantwortung für jene Eskalation, die schließlich zu ihrem Tod führte.
Ob sie oft Alkohol getrunken habe, fragte der Richter, und ob sie dann zum Disput geneigt habe. Wie sie grundsätzlich bei Streit reagiert habe. Ob sie sich schnell einmische und meine, schlichten zu müssen. Der Staatsanwalt schlug in dieselbe Kerbe: War Tuğçe Albayrak oft unterwegs zum Feiern? Gab es dann öfter Zusammenstöße mit anderen? So unverblümt hatte das die Familie noch niemand gefragt. Doch das Darmstädter Landgericht hat offenkundig nicht die Absicht, Tuğçe Albayrak auf jenem Sockel stehen zu lassen, auf den sie die Öffentlichkeit nach ihrem Tod gehoben hatte.
Der Fall Tuğçe schien wie geschaffen für einfache Denkmuster
Das heißt allerdings nicht zwangsläufig, dass der Täter mit einem Klaps auf die Hand davonkommt. Wenn Sanel M., ein schmaler, bubenhafter Junge von 18 Jahren, der das ganze Verfahren fast reglos und mit gesenktem Kopf verfolgte, Tuğçe Albayrak nicht geschlagen hätte, würde sie heute noch leben. So einfach ist das. Und doch so kompliziert.
Am Anfang schien der Fall Tuğçe wie geschaffen für einfache Denkmuster. Hier die schöne Studentin aus liberaler Migrantenfamilie, engagiert, mutig, selbstlos, dort der tumbe Proll aus einem Offenbacher Problemviertel, auch er Sprössling von Einwandern, aber Leistungsverweigerer, kriminell, ein Großkotz und Schläger.
Irgendwann nachts kreuzen sich ihre Wege. Beide sind in ausgelassener Stimmung. Sie treffen in einem McDonald’s aufeinander. Tuğçe stellt sich vor zwei hilflose Teenager, er schlägt sie später auf dem Parkplatz aus Rache ins Koma. An ihrem 23. Geburtstag lassen die verzweifelten Eltern die Herz-Lungen-Maschine abschalten. Tuğçe wird zur Organspende freigegeben, was drei anderen Menschen das Leben rettet. Durch ein Überwachungsvideo wird der Täter klar identifiziert. Er wandert in Untersuchungshaft. Am 16. Juni will das Gericht das Urteil fällen.
Nichtsnutz gegen Hoffnungsträgerin?
Böse gegen Gut, Monster gegen Engel, Nichtsnutz gegen Hoffnungsträgerin: Die verweigerte Integration hat die gelungene mit einem Schlag zerstört. Aber geboren wurde der Nation in dieser Nacht eine Heldin, eine Jeanne d’Arc der Zivilcourage.
Nur ist das Leben kein Filmset, die Realität nicht schwarz und weiß. Wie schon beim Tod von Dominik Brunner gibt es auch hier viel mehr Grautöne, als es die ersten aufgeregten Zeugenschilderungen vermuten ließen. Das hat der Prozess offenbart. Prompt ließ das Interesse an diesem Tod, der noch vor Kurzem die ganze Republik bewegte, spürbar nach.
Gefährliche Verklärung
Zu einer Mahnwache vor dem Landgericht kamen statt der erwarteten 350 Menschen nur 35. Die sozialen Netzwerke lassen die Verhandlung links liegen, im Gerichtssaal bleiben Zuschauerplätze frei. Vermutlich wird es erst dann wieder zu heftigen Empörungswellen kommen, wenn das Urteil gesprochen ist – und nach Meinung vieler zu milde ausfällt. Nicht wenige würden den 18 Jahre alten Täter Sanel M. am liebsten lebenslang im Knast sehen oder sogar niedergeprügelt und tot wie Tuğçe.
Eine Simplifizierung und gefährliche Verklärung, wie sie sich häufig der Sehnsucht nach klaren Verhältnissen und einfachen Lösungen verdanken. Mit Tuğçe Albayrak wurde vielleicht nicht die falsche Person zur Ikone der Zivilcourage gemacht – aber vielleicht wurde sie es aus den falschen Gründen. Zivilcourage heißt eben nicht nur, wie Tuğçe beherzt und kämpferisch für andere einzutreten. Es bedeutet auch, mit Bedacht und kühlem Kopf zu agieren, statt sich selbst und womöglich andere in Gefahr zu bringen.
Verbale Auseinandersetzungen und gegenseitige Beleidigungen
Aber das hat Tuğçe Albayrak offenbar getan, es steht zwischen den Zeilen sogar in der Anklageschrift. Es sei zu „verbalen Auseinandersetzungen“ und „gegenseitigen Beleidigungen“ gekommen, so formulierte es der Staatsanwalt. Sanel M. habe mehrfach versucht, auf die Geschädigte zuzulaufen, ein Bekannter habe ihn zurückhalten müssen. Doch dann sei Tuğçe Albayrak „einige Schritte auf Sanel M. zugegangen“. Sie kam ihm so nahe, dass er den fatalen Schlag setzen konnte, knapp am Kopf seines Freundes vorbei.
Wie wichtig auch der Verteidigung diese paar Schritte sind, zeigte ein überraschender Schachzug mitten in der Verhandlung. Verteidiger Stephan Kuhn stellte einen Befangenheitsantrag gegen Richter Aßling, den er selbst bis dahin stets als fair, sachlich, um Aufklärung bemüht und tadelfrei bewertet hatte. Kuhn dürfte selbst gewusst haben, dass dieser Antrag abgelehnt werden würde. Aber wichtig war ihm wohl, die Begründung dafür noch einmal an die Öffentlichkeit zu tragen: Aßling habe in einer Stellungnahme ans Oberlandesgericht, in der es um den Haftbefehl für Sanel M. ging, geschrieben, M. sei auf Tuğçe Albayrak zugegangen. Das entspreche aber nicht den Tatsachen, in Wahrheit sei es umgekehrt gewesen, so Kuhn.
Widersprüchliche Aussagen
Aßling hatte allerdings selbst bereits in mehreren Zeugenaussagen intensiv bei den Freundinnen von Tuğçe nachgefragt, warum sie dem Konflikt nicht ausgewichen seien. „Warum sind Sie hinunter zur Toilette gerannt, wenn da pöbelnde Jungs waren?“ und „Da sind die Jungs auf dem Parkplatz, die krakeelen und Sie anmachen, es gibt Stress. Wieso gehen Sie auf die zu?“, will er von den jungen Frauen wissen.
Einer Zeugin hält er die Aussage einer weiteren vor, die der Polizei gesagt hatte, Tuğçe sei sogar festgehalten worden von einer Begleiterin, und auch sie habe sich losgerissen, um auf Sanel M. loszugehen. Die Frau will sich daran nicht mehr erinnern. Eine andere hatte zunächst zu Protokoll gegeben, Sanel M. habe bereits im Auto gesessen, als Tuğçe ihm „Hau ab, du kleiner Hurensohn“ nachgerufen habe. Daraufhin sei er wieder herausgesprungen.
Auch an dieser Aussage soll plötzlich nichts dran gewesen sein. Doch immer mehr verfestigt sich das Bild, dass zwei selbstgerechte, leicht erregbare Gruppen Jugendlicher aufeinandergeprallt sind, dass jede auf ihre Art ihr Dominanzverhalten zeigte, dass keiner dem anderen etwas schenken wollte. Und dass dieser Streit, wie er sich täglich unzählige Male irgendwo ereignet, dieses Mal unglücklicherweise ein tödliches Ende nahm.
Belästigt, nicht aber bedroht
Fraglich ist auch, ob Tuğçes Eintreten für die Mädchen, die Sanel M. und seine Freunde bei McDonald’s belästigt hatten, überhaupt nötig und klug war. Nach den 13 und 14 Jahre alten Teenager war nach der Tatnacht lange gesucht worden. Vor Gericht sagten sie dann später unter Ausschluss der Öffentlichkeit aus. Doch wie der Staatsanwalt zusammenfasste, hatten sich die zwei zwar belästigt, nicht aber bedroht gefühlt von Sanel M. und seinen Kumpels.
Die Mädchen, offenbar angetrunken, hatten auf dem WC von McDonald’s auf den Morgen gewartet, weil sie ihren Eltern vorgeschwindelt hatten, jeweils bei der anderen zu übernachten, um auf eine Party gehen zu können. Das eine der Mädchen hatte einen Strauß Rosen in der Hand, den ihr zuvor ein Junge geschenkt hatte, während sie mit angezogenen Füßen auf dem Boden hockte und vor sich hin stierte.
„Haut ab!“
Diese bizarre Szene verlockte die betrunkenen Jungs, die gerade vom Feiern in einer Disco angerauscht waren, die Teenager anzubaggern. Ob sie einen Freund hätten, so hübsche Mädchen, ob sie noch was trinken gehen wollten, solche Sachen. Nervig, ja, aber niemand habe sie angefasst, sagten die Mädchen aus. Lauter wurde es erst, als einer der Jungs den Rosenstrauß an den Handtrockner hielt und es Blätter regnete. Er kaufe ihr einen neuen, schöneren, hatte er gegrinst.
Da schrie die eine genervt: „Haut ab!“ Tuğçe, die die Teenager vorher schon auf der Toilette hatte sitzen sehen und auch die pöbelnden Jungs oben im Restaurant erlebt hatte, zählte eins und eins zusammen – und rannte los. Es wäre wohl besser gewesen, wenn sie stattdessen schon lange vorher das Management im Restaurant informiert hätte: darüber, dass zwei Fast-noch-Kinder betrunken auf dem Boden der Toilette saßen.
Eine Bewährungsstrafe scheint unwahrscheinlich
Dafür, dass Sanel M. zugeschlagen hat, ist das alles selbstredend keine Rechtfertigung, selbst wenn er noch so wüst beschimpft oder provoziert worden sein sollte. Eine Bewährungsstrafe scheint mit Blick auf das pralle Strafenregister des gerade mal 18-Jährigen – erpresserischer Raub, gefährliche Körperverletzung, schwerer Diebstahl – unwahrscheinlich.
Als 16-Jähriger hat er einmal einem zehn Jahre alten, wildfremden Jungen einfach einen heißen Feuerzeugkopf an den Nacken gepresst, das Kind erlitt Verbrennungen, Sanel wanderte für den „dummen Streich“, wie er das nannte, eine Woche in Jugendarrest. Im selben Jahr hatte er einem Jungen das Handy abgenommen, er war mit einem Kumpel in einen Kiosk eingebrochen.
Jugendamt riet zu Therapie
Lange schon war er der Kontrolle seiner Eltern entglitten, und auch alle Bemühungen des Jugendamts, für ihn die richtige Schule zu finden, schlugen fehl. Ein Mitarbeiter des Jugendamts, der Sanel M. schon lange betreut, riet zu einer Therapie. Sanel habe mitunter Probleme, Folgen von Gewalt einzuschätzen. „Ich denke, dass er die Opfer-Perspektive nicht besonders gut einnehmen kann.“ Eine Bewertung, ob er nach Jugend- oder Erwachsenenrecht verurteilt werden sollte, wollte der Mann nicht abgeben – womöglich aus Angst vor Repressalien nach dem Urteil.
Je aufgebrachter, emotionaler, unbeherrschter der 18-Jährige, der in dieser Nacht mit seinen Kumpels heftig getrunken hatte, war, desto weniger greift nämlich die These, dass ihm die Tragweite seines Schlages bewusst gewesen sei. In der Anklageschrift heißt es zwar, Sanel M. habe erkennen können, dass „die Gefahr der tödlichen Verletzung mit seinem Schlag verbunden war“. Auch Nebenklage-Anwalt Macit Karaahmetoğlu versucht das Gericht zu überzeugen, dass es sich nicht um ein Unglück handelte, sondern um die fast schon absehbare Tat eines gefährlichen jungen Mannes. Sanels Verteidiger Stephan Kuhn allerdings bezweifelt, dass M. die Tragweite seines Handels klar gewesen sei.
„Unglücklicher Treffer“?
Sogar der Gutachter, der Tuğçe obduzierte, gab ihm indirekt recht. Ja, Tuğçe Albayrak sei an einer Hirnblutung gestorben, sagte Marcel Verhoff, Direktor des Frankfurter Instituts für Rechtsmedizin. Diese Einblutung, die selbst bei einer sofortigen Operation zum Tode geführt hätte, sei zwar nicht ausgelöst worden durch den Schlag selbst, aber durch den schweren Sturz auf den Kopf. Dass Albayrak ohne Abwehrreaktion zu Boden stürzte, sei wohl auf eine Ohnmacht zurückzuführen. Dafür könnte eine Ohrfeige ausreichen. Aber: „Wenn hier so ein Schlag vorlag, wird man ihn als unglücklichen Treffer bezeichnen müssen.“
Dieser Text von unseren Kollegen der WELT/ WELT am Sonntag erscheint mit deren freundlicher Genehmigung auf rollingstone.de.