Rewind Today: Kiss treten erstmals live auf
Unter dem Namen Kiss geben Gene Simmons, Paul Stanley, Ace Frehley und Peter Criss ihr Live-Debüt im Popcorn Club in New York. Für unsere Ausgabe 10/2012 traf Birgit Fuß Gene Simmons zum Gespräch.
Aus Wicked Lester wurden Kiss: Unter neuem Namen gaben Gene Simmons, Paul Stanley, Ace Frehley und Peter Criss vor genau 40 Jahren ihr Live-Debüt im Popcorn Club in New York.
Für unsere Ausgabe 10/2012 traf Rolling-Stone-Redakteurin Birgit Fuß den Kiss-Bassisten Gene Simmons in London, um nach dem Konzert mit ihm über das bevorstehende Album „Monster“ sowie das meterhohe „Monster“-Buch zu sprechen.
Der Text aus der Rolling-Stone-Ausgabe Oktober 2012:
Auch Menschen, die noch nie von der Band Kiss gehört haben, würden sofort erkennen, dass hier gerade ein Rockstar vom Frühstückstisch aufsteht. Seine Frau, das sehr blonde Ex-Playmate Shannon Tweet, lächelt ihm aufmunternd zu, der Baseballcap tragende Manager Doc McGhee nickt nur kurz. Dann erhebt sich Gene Simmons zu voller Größe und schreitet aufreizend langsam durch den Raum. Er trägt natürlich eine Sonnenbrille, und seine tiefschwarzen Haare liegen wie ein Helm um das Gesicht – das weniger glattgezogen wirkt, als es in seiner Reality-Fernsehserie „Family Jewels“ manchmal den Anschein hat.
Bei genauerem Hinsehen kann man erkennen, dass unter seinen Fingernägeln noch Reste schwarzer Schminke kleben – ein Hinweis auf seinen Hauptberuf: Als Bassist von Kiss spielt er seit fast 40 Jahren „The Demon“. Es ist freilich nicht nur eine schmutzige Arbeit, dieses ständige Auf- und Abschminken, sondern auch ein Glück für den 63-Jährigen und seine Kollegen: Die Masken werden niemals älter, und so können sie diese Fantasiefiguren spielen, bis sie umfallen. Und auf ihrem neuen Album „Monster“ Lieder singen, die anderen hochnotpeinlich wären: In „Shout Mercy“ wünscht sich Sänger Paul Stanley, die Frau möge beim Sex um Gnade winseln; in „Take Me Down Below“ geht’s nicht weniger derbe lüstern zu. Das mag man furchtbar finden oder bloß lächerlich – aber es ist Show und wie alles bei Kiss: eine Karikatur. Dass die Fangemeinde, die berühmte Kiss-Army, jeden Spaß ziemlich ernst nimmt, klingt nach Ironie des Schicksals.
„Kekse, Kaffee, Diät-Cola?“, fragt Gene Simmons in perfektem Deutsch. Dann präsentiert er das einen Meter hohe „Monster“-Fotobuch, das Kiss gerade herausgebracht haben – ein Schnäppchen für 4 300 Dollar. Natürlich kann ich es nicht wie befohlen hochheben, und natürlich finden er und Schlagzeuger Eric Singer das lustig. Simmons nennt Kiss gern „die Beatles auf Steroiden“ – weil alle vier in der Band singen dürfen, und um zu betonen, dass Kiss keine Two-Men-Show sind. Seit zehn Jahren sind Eric Singer und Gitarrist Tommy Thayer dabei, und doch trauern immer noch viele der Urbesetzung mit Ace Frehley und Peter Criss hinterher, die wohl etwas unsanft gefeuert wurden. Aber für Nostalgie hat Simmons keine Zeit.
Während Weggefährten wie Twisted Sister oder Mötley Crüe längst nur noch touren und sich nicht mehr die Mühe zu machen, neue Platten aufzunehmen, legt Simmons viel Wert darauf, dass in „Monster“ viel Arbeit investiert wurde – und das ohne fremde Hit-Schreiber. Kein Desmond Child, kein Russ Ballard. Nun sind Kiss bekanntermaßen extrem geschäftstüchtig – ihr Logo prangt auf allen denkbaren Artikel von Ofenhandschuhen bis Weihnachtskugeln, bei Konzerten gibt es vielfältige VIP-Pakete zu enormen Preisen. Es gibt nichts, was Kiss für Geld nicht machen würden, das ist ein Standardsatz über diese Band, und doch besteht Simmons darauf, dass ihre Musik „ehrlich“ ist: „Wir machen alles nur zu viert, so haben wir ja auch angefangen“, erklärt er. „Die Musikindustrie setzt einen allerdings extrem unter Druck – mit den Erwartungen des Radios und den Erwartungen der Mädchen.“ Der Mädchen? „Na, denen gefällt eben manchmal anderes Zeug als den Jungs. So ist die Natur. Aber darauf wollten wir keine Rücksicht nehmen, sondern unsere DNA behalten. Unser eigenes Kind zur Welt bringen, statt ins Krankenhaus zu schleichen und ein fremdes Baby rauszutragen.“
Eric Singer bringt die Richtung auf den Punkt: „Rock’n’Roll. Keine Balladen, kein anderer Quatsch.“ Und am Ende hat Produzent Stanley das letzte Wort. Gene Simmons gibt zu, dass er einfach zu viele andere Dinge im Kopf hatte, um sich nur um „Monster“ zu kümmern: „Ich habe ja das Glück, dass ich so viele Geschäfte am Laufen habe, vor allem auch die Fernsehsendung. Wenn man ein Album produziert, ist das so, wie wenn man verheiratet ist. Man darf keine Geliebten nebenbei haben, man muss sich allein auf das Album konzentrieren – wie Paul. Wem sonst sollte ich so vertrauen? Wir kennen uns schließlich seit Ewigkeiten.“ Und dann klopft schon der Promoter und kündigt den nächsten Interviewer an, aber Simmons sagt, wieder einwandfrei deutsch: „Einen Moment, bitte!“, und setzt zu einer Generalabrechnung mit den ehemaligen Kollegen an. Seine Begründung, warum Kiss jetzt wieder gute Alben machen können: „Es kommt immer auf die Gesundheit der Band an, vor allem auf die geistige und seelische. Wenn man klar im Kopf ist, weiß man, was einem gefällt. Eine unbekannte Band in einer Garage weiß immer, was sie machen will und wer sie ist! Dann wird man reich und berühmt. Manche werden drogenabhängig oder Alkoholiker, die Sinne sind vernebelt – das kennt man ja. Andere werden von Ruhm und Reichtum verführt – siehe Gene Simmons (er spricht gern von sich selbst in der dritten Person). Jeder verliert auf seine Weise die Orientierung. Seit einigen Jahren ist es bei uns wieder wie damals bei den ersten Alben, bis ,Destroyer‘: Wir stecken viel Zeit und Kraft rein, aber wir müssen uns nicht quälen. Wir vertrauen uns selbst wieder, weil wir einen klaren Kopf haben.“ Die ungefähr 15 mageren Platten dazwischen – was kümmern die ihn jetzt! Im Hinausgehen fragt er noch höflich, warum Kiss denn nie auf dem Cover des deutschen ROLLING STONE seien? Ob wir nicht wüssten, wie viele Hefte man damit verkaufen könne?
Am Abend des langen Interview-Tages spielen sie noch für die Veteranen-Benefizorganisation „Help For Heroes“ ein Konzert. Ins Londoner Forum passen nur 2000 Leute, aber wenn Kiss auftreten, schießen sie immer aus allen Kanonen – und feuern also auch hier Pyros und Konfettibomben ab, als stünden sie im Stadion. Sie nennen sich nicht umsonst „the hottest band in the world“. Als alle erschöpft nach Hause gehen, klingt noch „God Gave Rock’n’Roll To You II“ nach – mit diesen Zeilen, die viel über Kiss verraten: „You can take a stand or you can compromise / You can work real hard or just fantasize.“