Rewind Today 2003: Johnny Cash stirbt im Alter von 71 Jahren – Nachruf und Bilder der jungen Legende
Heute vor zehn Jahren starb Country-Star Johnny Cash. Für unsere Oktober-Ausgabe von 2003 verfasste Wolfgang Doebeling einen Nachruf. Zusätzlich erinnern wir mit einer Galerie an den legendären Künstler und seine Karriere.
Aus der ROLLING-STONE-Ausgabe 10/2003:
Der Staub und die Seele von Arkansas
Ganz in Schwarz sang er fast 50 Jahre lang für die Benachteiligten und Geknechteten, vor Zuchthäuslern wie vor Präsidenten: Zum Tod von Johnny Cash
Memphis habe ihn angelacht wie eine Hure, brachte Johnny Cash zu Papier. Er habe die Bürde der Versuchung getragen, sei gestrauchelt, nicht gefallen. Erst Nashville, ein Sündenpfuhl mit subtileren, auf den ersten Blick harmloseren Lockangeboten habe mählich seine Widerstandskraft ausgehöhlt wie steter Tropfen den Stein. Samstagnacht ließ Johnny sich gehen, Sonntagmorgen schämte er sich. Und je mehr er soff und den Drogen zusprach, desto schwerer war die Buße, die er sich auferlegte. Die Seele habe es ihm zerrissen.
In seiner großen Zeit, als er das Gesicht der Country Music prägen half und der Welt die Stirn bot, ihr Gewissen war, schwarzgewandet für die Armen und Ausgestoßenen sang, für die Mühseligen und Beladenen, war Johnny Cash ein wandelnder Widerspruch. Er litt, weil er sehenden Auges auf den Abgrund zusteuerte, sich fortwährend darüber Rechenschaft ablegte. „I keep a close watch on this heart of mine“, sang er abends auf immer größeren Bühnen, „I keep my eyes wide open all the time.“ Und am folgenden Abend wieder. Der schwere Gang zum Mikrofon, der rauschende Beifall, die obligaten ersten Worte: „Hello, I’m Johnny Cash.“
Ob er sich so bei Sam Phillips, dem Eigner von Sun Records, vorstellte, ist nicht verbürgt. Staubig sei dieser Junge gewesen, erinnerte sich Phillips lachend, nicht äußerlich, oh nein. Eine blitzsaubere Erscheinung, die Stiefel auf Hochglanz gewienert. Aber er sprach und trat auf, als habe er Arkansas mitgebracht. Höflich, schlicht, staubtrocken. In Kingsland, Arkansas, am 26. Februar 1932 geboren und J. R. Cash getauft, als Sohn eines Baumwollfarmers, dem die große Depression den Markt und eine verheerende Dürre den Boden geraubt hatte, verlebte „Johnny“ (den Namen verpasste ihm später die Airforce) seine frühe Kindheit in bitterer Armut. Roosevelts „New Deal“ verschaffte den Cashs eine Parzelle in den fruchtbaren Niederungen des Mississippi-Delta, als Teil eines Umsiedlungsprogramms, das Weißen vorbehalten war. Dort, in Dyess, nur 30 Meilen flussaufwärts von Memphis, hörte Johnny erstmals Musik aus dem Radio. Ein Luxus, den sich die Cashs freilich nur periodisch und stundenweise leisten konnten, solange die Batterien durchhielten. Bis dahin kannte Johnny nur die Lieder, die in der Baptistengemeinde gesungen wurden, Hymnen zumeist, und jenen schwermütigen Singsang schwarzer Pflücker, der von den Baumwollfeldern herüberwehte. Und natürlich die vertrauten Folk-Songs und christlichen Erbauungslieder, die seine Mutter gesungen hatte, solange er sich erinnern konnte. Doch was da aus dem Radio drang, dieser rasante Hillbilly, die klagenden, warnenden Weisen der Louvin Brothers und Roy Acuffs unheimliches „Wreck On The Highway“, das Johnnys Blut in den Adern gefrieren ließ, zog ihn unwiderstehlich an, ließ ihn nicht mehr los.
Vom Vater geduldet, von der Mutter ermuntert, verbrachte Johnny viel Zeit mit seiner Gitarre. Mit zwölf musste er erleben, wie sein um zwei Jahre älterer, heißgeliebter und bewunderter Bruder Jack starb, tagelang, nachdem er in eine Säge geraten war. Das prägte ihn. Und die Songs, die er schrieb, meist draußen in der Nähe der Bahngleise, wo er sehnsüchtig den Zügen nachsah, deren rhythmisches, monotones Stampfen sich niederschlug im Schlag seiner Gitarre, ebenso wie das stotternde „tuck-tuck“ der Traktoren. Ernste Lieder waren es, tragische Geschichten, zu diesem motorischen „Boom-chicka-boom“-Beat, der zu seinem Markenzeichen werden sollte, verfeinert, von Luther Perkins‘ perfektem Reverb, Marshall Grants Swing und W. H. Hollands stoischer Snare.
Als Phillips sein Tafelsilber verscherbelte, landete Cash bei Columbia, machte aber den Schritt zu Sony nur widerwillig mit und wechselte 1986 für fünf lausige Jahre zu Mercury. Ich traf ihn damals zu einem kurzen Interview in Berlin, er wollte den Checkpoint Charlie sehen, wir stiefelten die Mauer entlang, Cash murmelte dunkle Prophezeiungen, verfluchte den Kommunismus und das Musikgeschäft. Wir redeten wenig, ich nannte ihn „Sir“, er nannte mich „son“. Abends, auf der Bühne des ICC, war er schlecht bei Stimme, schleppte den talentarmen Sohn vors Mikro und ließ seiner Frau June Carter viel Raum.
Natürlich war sie es gewesen, die ihn 1968 an den Haaren aus dem Drogensumpf gezogen hatte, die bei ihm war, als er auf Entzug wochenlang die Wände hochging. Und die ihn stützte, in den letzten schweren Jahren der heimtückischen Krankheit, die den Geist intakt ließ und den Körper schmerzlich degenerierte.
Rick Rubins „American Recordings“ führten Cash zurück zu seinen Wurzeln, in die vorindustrielle Zeit, nach Arkansas. Johnny Cash kehrte heim, als Folk-Sänger, Erzähler, Mensch mit aufrechtem Gang. „Ich blieb meiner Musik treu, meiner Familie und meinen Fans“, sagte er, „so möchte ich in Erinnerung bleiben.“ Im März ging June voraus, lange warten musste sie nicht.
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