Rewind Today 2003: David Bowie veröffentlicht ‚Reality‘ ***
Bowie schwebt über muskulösen Musikern - rocken kann er nicht.
Mit „Reality“ veröffentlichte David Bowie 2003 ein eher durchschnittliches Album, auf dem die Coverversionen („Try Some, Buy Some“) sowie Neubearbeitungen alter Stücke („Bring Me The Disco King“) sogar noch besser waren als die zuhauf eingestreuten Rocker-Songs („Reality“). Wer aber hätte gedacht, dass „Reality“ für den Zeitraum von zehn Jahren eines seiner wichtigsten Platten werden würde? So lange nahm Bowie sich für den erst 2013 veröffentlichten Nachfolger „The Next Day“ Zeit. Und so lange lag „Reality“ ganz oben auf dem Stapel der Bowie-Alben. Von Jahr zu Jahr nahm es immer mehr die unbeabsichtigte Rolle eines Abschied-Dokumentes ein. Nach Bowies Herzinfarkt 2004 vermutete man gar, er würde nie wieder neue Musik veröffentlichen.
Joachim Hentschel rezensierte „Reality“ für die Ausgabe 10/2003:
David Bowie: Reality ***
Ganz wie erwartet führt uns der lustige Airbrush-Zeichentrick-Kindchenschema-Bowie mit dem schiefen Krawattenknoten noch vor dem ersten Luftholen zum Ground Zero, zeigt die grässliche Narbe am Himmel, aber weil die Band hinter ihm schon so unbeirrt am Rufen und Rhythmus-Nicken ist, bleibt nichts anderes übrig: „Let’s face the music and dance!“ „New Killer Star“ ist die einzige Erwähnung von Bowies Lieblingswort „star“ auf dem Album „Reality“, und er meint auch noch einen bösen Stern wie den im ersten „Star Wars“. Multi-schizophren kommt seine Stimme in verschiedenen Tonlagen aus allen Richtungen, und die Melodie ist: „I Will Follow Him“ von Peggy March, aber daran erinnert er sich sicher nicht Meistens ist es der typische Sprechgesang. Zwischen die Gitarren eingeworfene Zeilen: Es fallt gerade bei dieser verhältnismäßig lauten Platte schwer, sich Bowie als echtes Mitglied der Band (seiner Tour-Band) vorzustellen – weil er kein Rocker ist, niemals war. Wenn die Musiker muskulös arbeiten und pumpen, steht oder schwebt der Sänger transzendental daneben oder erscheint auf dem Bildschirm eines von der Decke hängenden Fernsehers, weswegen sich die Stimme auf „She’ll Drive The Big Car“ komprimiert und verzerrt anhört. Schon ganz früher ging er ja zum Kostümwechsel hinter die Bühne, während Mick Ronson sein langes Solo spielte. Beziehungsweise, Ronson spielte es überhaupt nur, damit Bowie sich umziehen konnte.
Im unangenehmsten Fall (zum Beispiel beim unsäglich jaulenden Titellied oder bei „Never Get Old“) rockt er eben doch, gegen den Rat des Arztes, und verliert die Fassung. Bei „Fall Dog Bombs The Moon“ dagegen (dessen Rhythmus und Gitarrenbehandlung an „Heroes“ erinnern, nach dem Wiedereintritt in die Atmosphäre) gelingt die alte, heilige Spannung zwischen Stimme und Rest, die Bowie in den achtziger Jahren (wir sagen ab jetzt: die „Schweizer Phase“) verloren hatte. Viele Gedanken von damals, viele Tin-Machine-Elemente wird er weiter mit sich herumschleppen. Die Zeiten, in denen geniale Partner gelegentliche Schwächen seiner Songs überspielten, sind vorbei.
„Reality“ ist ein Produkt von Tony Visconti aus New York, wo Bowie quasi in Hausschlappen ins Studio laufen kann, es gibt zwei Coverversionen (Jonathan Richman, George Harrison), viele sozial realistische Szenarien rund um den Hudson River und zwei Meisterstücke, die Stillsteh-Meditation „The Loneliest Guy“ und die aus dem Ärmel heraus geschauspielerte Jazz-Moritat „Bring Me The Disco King“ mit Joy Division-Zitat und Mike Garson am Klavier, die zwei am wenigsten erhitzten Lieder.
„Das einzige Problem an Bowie ist, dass man ihn heute sehr viel weniger braucht als früher“, schrieb Diedrich Diederichsen 1987. Oder doch: Wäre „Reality“ nicht von Bowie, wäre sie nicht der Rede wert.
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