Revolution Redux
Der umstrittene Theater-Regisseur Volker Lösch inszeniert mit Hartz-IV-Empfängern die soziale Realität.
Die gute, alte Revolution. In ihrem Namen ballten sich einst die Fäuste in den Taschen, entluden sich Hoffnungen auf eine bessere Zukunft. Oft bis die Köpfe der alten Herrscher in den Staub einer neuen Gesellschaft rollten. Und heute? Ist „Revolution“ ein so nichtssagender Begriff, eine Großraum-Disko in Neuss heißt so und eine Single von Stefanie Heinzmann. Es gibt Revolutionen in der Autofelgen-Technik und natürlich im Internet. Bei politischen Debatten und in den Talkrunden spielt das Nachdenken über radikale gesellschaftliche Veränderungen keine Rolle mehr. Warum eigentlich?
Diese Frage interessiert ganz offensichtlich auch Volker Lösch: „Marat, was ist aus unserer Revolution geworden?“ heißt die jüngste Inszenierung des 45-jährigen Regisseurs, die zur Zeit am Deutschen Schauspielhaus inHamburg gespielt wird. Lösch hatte schon 2004 mit seiner Dresdner Aufführung von Gerhard Hauptmanns „Die Weber“ für hitzige Debatten gesorgt. Der Stuttgarter Regisseur, der früher als Pädagoge mit schwer erziehbaren Jugendlichen arbeitete, gilt einigen Feuilletonisten als Che Guevara der deutschen Theaterlandschaft. Man hat ihm Agitprop vorgeworfen, Populismus und mangelnde Differenzierung. „Diese Leute möchten wohl psychologisches Theater sehen, das im herkömmlichen Sinn die Beziehung zwischen zwei Menschen aufschlüsselt“, glaubt der ehemalige Schauspieler. „Aber das reicht mir nicht, das habe ich auch zu Hause. Da setzte ich mich lieber an den Hauptbahnhof und gucke den Leuten zu. Das ist spannender als etwa zum i8oigsten Mal ,Nora‘ von Ibsen zu sehen“.
Mit „Marat, was ist aus unserer Revolution geworden?“ sorgt Lösch nun wieder einmal für Wirbel — aber auch für einen „Abend des puren Theaterglücks“ (Die Zeit). Denn der Regisseur weiß, dass nicht nur Henrik Ibsen tragische Geschichten erzählen kann, sondern auch die Menschen, die man gemeinhin Sozialfälle nennt. Lösch hat deshalb 24 von ihnen ins Schauspielhaus geholt — Hartz-IV-Empfänger, Schwerbehinderte und ehemalige Drogenabhängige. Mit ihnen und einigen „richtigen“ Schauspielern haben der Regisseur und seine Dramaturgin Beate Seidl zehn Wochen lang zusammengearbeitet. Herausgekommen ist eine sehr freie Bearbeitung des Theaterklassikers von Peter Weiss aus dem Jahr 1964: „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade“. Die Hamburger Inszenierung sollte ebenfalls diesen Bandwurm-Titel tragen, doch der „Suhrkamp Verlag“ intervenierte: „Die waren der Meinung, dass wir uns nicht an Verabredungen gehalten und Fremdtexte eingebaut haben. Deswegen mussten wir den Titel ändern, und eine Konventionalstrafe gab’s auch.“ Löschs Vergehen: Er hat einen dezent angestaubten Text über die Frage nach dem Sinn und den Risiken einer Revolution in die Gegenwart geholt.
Im Prolog kommen die armen Bürger der reichen Hansestadt in kleinen Gruppen auf die Bühne. Sie sind 21 bis 76 Jahre alt, im Chor erzählen sie von ihren individuellen Schicksalen, Sorgen und Nöten. Einiges davon hat man schon gehört oder in der Zeitung gelesen. Trotzdem ist man berührt. Das ist keine Erbauung, nicht die kleine Sinnsuche nach Feierabend, sondern ein Schlag des ungerechten Lebens mitten ins eigene Gesicht: „Wir haben diese Leute dazugeholt, weil sie Zeugen von Dingen sind, die wir nur aus zweiter und dritter Hand kennen“, so Lösch. „Nur jemand, der Armut selber lebt, kann erzählen, wie sich so etwas anfühlt. Ein Autor hat eher das Ziel, Kunst zu machen, damit sich seine Stücke von den anderen Tausend unterscheiden, mit denen er konkurrieren muss.“
Erst nach dem beklemmend intimen Prolog hebt sich der Vorhang. Die Bühne sieht aus wie eine riesige Gummizelle, überstrahlt von einem gigantischen, „Aldi“/ „Lidl“-Logo: Die Parallelwelt der Ausgegrenzten, in ihrer ganzen billig leuchtenden Enge.
Was nun im Mittelteil – dem eigentlichen Stück – passiert, hat absichtlich etwas Plakatives. Der Schauspieler Achim Buch lässt den an den Idealen der Revolution festhaltenden Jakobiner Marat mal wie Lenin, mal wie Dutschke aussehen – und als die aufgebrachte Dissidentin Charlotte Corday (Jana Schulz) ihn schließlich in der Badewanne ermordet, hat er schon längst die Gestalt von Oskar Lafontaine angenommen. „Eine der zentralen Aussagen unserer Inszenierung ist: Geht von diesen Führerpersonen weg! Es kann nicht der richtige Weg sein, auf einen linken Erlöser zu warten“, so Lösch. Doch die fiebrige Sehnsucht nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit springt im Stück auf den Chor der Arbeitslosen über, der bis dahin von einer Art Fußballtrainer mit absurden Motivations-Übungen beschäftigt und abgelenkt wurde.
Doch nun stehen sie vor uns Zuschauern, wie die dunkel bedrohlichen Gestalten auf den Bildern des Malers Daniel Richter. Sie haben sich mit „Blut“ übergossen, kommen näher und näher, rufen „Hamburg soll brennen!“ oder „Das Geld abschaffen!“. Es werden aber auch vernünftige Vorschläge gemacht: „Von den 300 Superreichen in Deutschland sind 28 Hamburger. Ihr Vermögen beträgt zusammen49,35Milliarden Euro. Wenn diese 28 Hamburger nur 2,5 Prozent Vermögenssteuer zahlen würden, hätte der Hamburger Haushalt 1,2 Milliarden mehr in der Kasse.“ Danach folgen die Namen, Adressen und das aktuelle Vermögender Millionäre. Bis auf fünf, die schon im Vorfeld auf Unterlassung geklagt hatten – dabei wurde die verlesene Liste längst im „Manager Magazin“ Spezial 2008 veröffentlicht.
Für die Hamburger Kultursenatorin Karin von Wtlck war das alles eine Zumutung. Hamburg gilt als Hauptstadt der Mäzene, die hier einiges möglich machen – oder eben auch nicht. Aus Angst vor finanziellen Verlusten rief von Welck noch am Tag der Premiere den Intendanten des Schauspielhauses, Friedrich Schirmer, an, um den letzten Teil des Stücks zu verhindern. Lösch hat dafür kein Verständnis: „Natürlich haben ¿wir die Hoffnung, dass die Menschen, die unsere Aufführung besucht haben, hinterher anders über diese Dinge denken. Aber niemand sagt: Geht los und schleift die Reichen auf die Straße! Es geht um eine vorgestellte Revolution: Was wäre, wenn sich die vielen Menschen, denen es schlecht geht, tatsächlich solidarisieren würden? Man macht sich ja weltweit Gedanken darüber, wie man seinen Protest jenseits von Leserbriefen artikulieren kann. Ob das dann gleich eine Revolution ist, würde ich erst mal bezweifeln. Aber ich denke, es reicht heute nicht mehr, bei Ver.di‘ zu sein und mit Trillerpfeifen durch die Stadt zu laufen.“