Revolution mit 33 Umdrehungen
Popmusik erobert die Welt, das Album erobert die Popmusik: Der Siegeszug der Langspielplatte beginnt in den sechziger Jahren. Weil Musiker den Aufbruch wagen, die Fans genug Geld haben und die Industrie es so will.
Es grünt so grün, wenn Spaniens Blüten blühen. Wer gegen Mitte der sechziger Jahre in Deutschland eine Langspielplatte kauft, der will zumeist genau diese Textzeile hören, gesungen von Karin Hübner. Elvis? Fehlanzeige. The Beatles? Auf den Rängen. Denn der erste LP-Superseller Deutschlands ist die heimische Fassung des Musicals „My Fair Lady“, dargeboten von den Schauspielern des Berliner „Theater des Westens“. Und was sagt uns das? Vor allem eines: Teenager haben 1964 nicht zwangsläufig genug Geld, um es in 20 Mark teure Alben zu investieren. Sie kaufen Singles. Die LP gibt’s dann zu Weihnachten.
Die Langspielplatte, seit 1951 in Deutschland erhältlich und seit 1957 auch stereophon abspielbar, ist zunächst also ein eher „erwachsenes“ Medium, angefüllt mit klassischen Konzerten, leichter Muse, schmissigen Märschen und traditionellem Jazz. 50 Millionen Schallplatten werden 1960 hierzulande verkauft, darunter nur 6,7 Millionen LPs. Doch die jährlichen Zuwachsraten liegen fortan stets im zweistelligen Prozentbereich, weshalb 1964 sogar eigene Albumcharts eingeführt werden. Auf Platz 1: „„My Fair Lady“. Ein Jahr später: ebenso. 1966 muss sich der Musical-Mitschnitt dann Esther & Abi Ofarim geschlagen geben und rutscht auf Platz 2 ab.
Die typische Pop-LP jener Jahre folgt einem klaren Muster: Ein oder zwei Single-Hits samt B-Seiten, dazu jede Menge Füllmaterial. Von künstlerischer Stringenz, vom Gesamtkunstwerk Album spricht noch niemand. Die LP ist ein Marketing-Vehikel, mehr nicht. Zudem fassen die Verantwortlichen der Plattenfirmen, allesamt graumelierte Herren, die Klangkunst fürs junge Volk gerne mit ganz spitzen Fingern an. Pop gilt als Trash, als schnelllebige Halbstarkenbeschallung, in die zu investieren kaum lohnt. Alben werden in wenigen Stunden aufgenommen, häufig von Toningenieuren, die keinen blassen Schimmer davon haben, wie eine elektrische Gitarre zu klingen hat.
Dass sich all dies in wenigen Jahren ändern soll, liegt eindeutig an den Beatles und ihrer alles beherrschenden Marktmacht. Um 1965 bemerken selbst die konservativsten Produzenten und Plattenmanager, dass sich mit Rockmusik richtig Geld verdienen lässt, zudem agieren die Musiker immer selbstbewusster. Ohne die Beatles wäre die EMI nur eine Plattenfirma von vielen, mit ihnen ist sie plötzlich Englands Gelddruckerei Nummer 2. Das weiß EMI-Chef Sir Joseph Lockwood. Das wissen auch die Beatles. Es wissen die vielen Plattenmanager, die nach den „neuen Beatles“ fahnden, und auch die jungen Musiker, die diese Rolle gerne übernehmen würden. Der künstlerische Emanzipationsprozess jener Jahre wird durch ökonomische Erwägungen gewiss nicht immer gefördert, aber zumindest auch nicht massiv behindert. Selbst durch die Chefetagen weht ein Hauch von Aufbruchsstimmung. Frank Zappa sieht’s 1968 mit gebührendem Sarkasmus: „„We’re Only In It For The Money“.
Die Beatles genießen in den Studios der EMI nahezu Narrenfreiheit, die sie dann auch nach Lust und Laune auskosten: Entstand ihr Debüt „„Please Please Me“ 1963 noch größtenteils während einer einzigen Zwölfstunden-Session, lässt man sich für „„Rubber Soul“ zwei Jahre später schon deutlich mehr Zeit: Die Aufnahmen ziehen sich vom 12. Oktober bis zum 11. November 1965. Das Ergebnis setzt sich vom tradierten „„two killers, ten fillers“ dann auch deutlich ab: Obwohl dem Album kein roter Faden, kein offenkundiges Konzept zugrunde liegt, wirkt es doch stringent und in sich geschlossen – von Ringos Country-Ausflug „What Goes On“ einmal abgesehen. „Rubber Soul“ ist keine fix zusammengeschusterte Song-Sammlung mehr, sondern als homogenes Statement größer als seine Bestandteile: die eigentliche Geburt des Pop-Albums.
Die zeitgenössische Kulturkritik, der Popmusik bislang tendenziell sauertöpfisch gesonnen, beginnt sich langsam zu öffnen: Das Beatles-Werk „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“, entstanden in sechs Monaten und mit seinem aufwändigen Cover-Artwork samt Textabdruck die bislang teuerste Pop-Produktion, erntet in den Feuilletons 1967 durchaus Wohlwollen. Die Popmusik, ehemals abgetan als billige Unterhaltungsware, mag schon längst ein Kulturgut sein, als mögliche Kunstform betrachtet man sie jedoch erst gegen Ende der sechziger Jahre. Und das liegt nicht zuletzt an einem runden Stück PVC mit einem Loch in der Mitte und einer Spielzeit von etwa 40 Minuten – die ideale Plattform für ambitionierte Musiker, Kreativität, Kunst und Können zu präsentieren.
Was natürlich auch eigenartige Blüten treibt, die dem Zeitgeist geschuldet sind. Die Popmusik hat ihre ersten Flegeljahre hinter sich, entdeckt Anspruch, Tiefsinn, Sozialkritik und will endlich richtig ernst genommen werden. Also wird schweres Geschütz aufgefahren, denn auf Anspruch und Aussage kommt es an: Das Konzeptalbum „Tommy“ etwa, mit dem The Who 1969 vier LP-Seiten lang ins Philosophische, Religiöse, Mystische abdriften. Ein Textheft gehört jetzt zum guten Ton, dazu gibt’s ein Booklet mit allerlei seltsamen Fotos und Illustrationen. Überhaupt: die Verpackungskunst. Genügte um 1965 noch ein Cover-Foto mit vier oder fünf jungen Herren, die entweder possierlich (Teenie-Pop!) oder grimmig (Rolling Stones!) in die Kamera blickten, ist ab 1967 auch optische Bewusstseinserweiterung das große Ding.
Rock hat jetzt Kunst zu sein
Passé sind all die Bandfotos von uniformierten Anzugträgern mit stolz präsentierten E-Gitarren, von jungen Menschen, die lustig in die Luft springen oder am Strand mit Surfbrettern posieren. Ob die 13th Floor Elevators, The Crazy World Of Arthur Brown, die Incredible String Band oder Cream: Bunt ist ab 1967 nicht nur das deutsche Fernsehen, auch die Plattenhüllen emittieren Orange und Gelb, giftiges Grün, Purpur und Rot. Gerne ergänzt um kollagenhafte Schnipsel, verzerrte Bandfotos und allerlei mehr. Optisches LSD. Die neue Rätselhaftigkeit. Augen-Aua wird billigend in Kauf genommen.
Aber zurück zum künstlerischen Anspruch auf musikalischer Ebene: Wer keine bedeutungsschwangeren Texte über die Verlorenheit des Individuums, ein weißes Fahrrad, das Universum und den ganzen Rest schreibt, der beeindruckt jetzt eben mit einem sechsminütigen Gitarrensolo. Plötzlich sind sie wieder da, die Albumfiller, diesmal getarnt als „freie Improvisationen“. Wenn Jimi Hendrix so was macht, geht es meistens gut. Wenn Golden Earring „„Eight Miles High“ von den Byrds in eben jenem Zustand zur semi-virtuosen Instrumentalsession auswalzen, können einem zehn Minuten aber auch verdammt lang werden. Das potenzielle Beeindruckungsrepertoire ist in jenen Jahren jedenfalls ziemlich umfassend: Da gibt es die schiere Power bei Vanilla Fudge und Led Zeppelin, den klassischen Anspruch bei The Nice, Deep Purple und Procol Harum, den Jazz-Aspekt bei Chicago Transit Authority, Blood, Sweat ft Tears und Spirit. Soll keiner mehr sagen, dass Rockmusiker nicht spielen können. Rock hat jetzt Kunst zu sein, und das Album ein Kunstwerk.
Doch das Rotationsprinzip aus Bewegung und Gegenbewegung funktioniert schon damals, manche Musiker klinken sich aus dem Schneller-Höher-Wichtiger bewusst aus: Folkies wie The Band etwa, die Proto-Punks Velvet Underground oder auch rustikale Bluesbands auf dem Weg zurück zur Natur. Nischen tun sich auf und werden umgehend besetzt. Der Markt ist größer geworden, das Angebot vielfältiger. War die Rockmusik zu Anfang des Jahrzehnts noch ein dünner Setzling, ist sie 1969 ein stattlicher Baum mit zahllosen Ästen und Zweigen – manche werden wieder absterben, andere werden neue Triebe hervorbringen. Dass es soweit kommen konnte, liegt natürlich zuallererst an der Kreativität und Abenteuerlust damaliger Künstler. Das Medium, das diesen kulturellen Wandel angemessen in Szene setzte und weltweit verbreitete, war jedoch das Album. Dank wachsender Kaufkraft und steigendem Taschengeld erschwinglicher denn je.