Ohne große Ideen geht bei U2 gar nichts. Das letzte Album, „How To Dismantle An Atomic Bomb“, sollte eine Reise „from fear to faith“ sein, dieses bewegt sich nun „from dark to day“. Und mit dem Titelsong beginnt „No Line On The Horizon“ tatsächlich wie die Abenddämmerung, ein bisschen bedrohlich. Der dräuende Beat verschluckt fast Bonos Gesang, der sich aber spätestens beim Chorus und dann mit sehr vielen „Ooooh-ooooh“s durchsetzt. Wenn erst mal die typische Edge-Gitarre einsetzt, ist alles gut.

Es waren sämtliche Voraussetzungen gegeben, dass das zwölfte Studioalbum ähnlich klingt wie die beiden vorangegangenen Werke. Brian Eno, Daniel Lanois und Steve Lillywhite produzierten; man reiste gemeinsam nach Marokko, New York und London, mit Zwischenstopp im heimischen Dublin. Theoretisch könnten es sich U2 mit ihren Freunden gemütlich machen, weiterhin einfach typische U2-Songs schreiben und sie mit gewohnter Wucht aufnehmen.

Doch die vier sind zu ehrgeizig, um- wenn auch auf höchstem Niveau- zu stagnieren. Lieber fallen sie mal wieder auf die Nase. Zum Glück ist dies allerdings kein misslungenes Experiment wie „Zooropa“, auch nicht so mutig wie damals „Achtung Baby“. Vielleicht, weil wir es jetzt eben schon gewöhnt sind, dass U2 von Zeit zu Zeit über die Stränge schlagen müssen.

„No Line On The Horizon“ liegt mit seinen heftigen Beats und überbordenden Arrangements, seinen starken Melodien und zwingenden Rhythmen irgendwo zwischen dem klassischen Band-Sound und dem ständigen Willen zur Innovation. Während Coldplay immer mehr zu U2-Nachlassverwaltern werden, lassen sich U2 also selbst nicht so billig davonkommen.

„Magnificent“ mag noch klingen, als bliebe alles beim Alten, und „Moment Of Surrender“ geht zunächst so gar nicht los, doch aus dem schleppenden Beat wächst eine wunderbare Ballade. „It’s not if I believe in love/ It’s does love believe in me?“, fragt Bono verzweifelt. Der Song ist zerrissen, mächtig, zurückhaltend, raumgreifend- alle die Widersprüche, die U2 ausmachen, in ein paar Minuten.

Danach geht es in die dunkelsten Stunden der Nacht hinein. „Unknown Caller“ beginnt mit einem alarmierenden Falsett und führt dann ins Nirgendwo zwischen Paranoia und Neustart, bis „I’ll Go Crazy If I Don’t Go Crazy Tonight“ die Spannung auflöst. Nie zuvor ist es Bono gelungen, so anrührend über seine beiden Seiten zu singen, über Verantwortung („How can you stand next to the truth and not see it?“) und die Sehnsucht nach etwas Leichtsinn, über große Hoffnungen („Every generation gets a chance to change the world“) und kleine Fluchten.

Am Ende siegt naturgemäß nicht der Spaß, sondern leichte Melancholie. Die dann bei „Get On Your Boots“ mit Füßen getreten wird. Als erste Single wählten U2 das schnellste Stück des Albums, eine Art verführerischer Dance-Rock mit einem relativ stumpfen Mittelteil, der so amüsant ist wie die fetten Gitarren. „I don’t wanna talk about wars between nations“, stellt Bono klar. Noch ein Glas, bitte!

Das krachende „Stand Up Comedy“ nimmt den Schwung mit und liefert das U2-Statement des Jahres: „Be careful of small men with big ideas!“ Während das orientalisch angehauchte, hochtrabend betitelte „Fez- Being Born“ allzu gleichförmig dröhnt, ist „White As Snow“ eine weitere Sternstunde in finsteren Stunden.

Die hypnotischen Sounds führen einen durch karge Landschaften, in denen Bono Vergebung und einen Rest Unschuld sucht: „If only a heart could be as white as snow…“ Und auf zum nächsten Bruch- dem stockenden Schnellsprechgesang von „Breathe“, der von quengelnden Gitarren untermalt wird, und zum abschließenden „Cedars Of Lebanon“, das gar kein richtiger Song mehr ist, eher eine zart vertonte Erzählung mit Bono als Kriegskorrespondenten, der seine Einsamkeit in dieser „shitty world“ nur einem Diktiergerät anvertrauen kann und trotzdem nicht nach Hause will.

Der Tag bricht an, er sieht mal wieder nicht sehr verheißungsvoll aus. Aber diese Band wird das Beste daraus machen. „My ego is not medium“, gibt Bono hier zwischendurch einmal zu, doch das Herz von U2 wird immer größer sein. (Universal)

Birgit Fuss