Tocotronic

Wir kommen um uns zu beschweren

Das Nölen, die stets schlechte Laune und das Missvergnügen nehmen epische Dimensionen an auf der dritten Platte von Tocotronic: „Wir kommen um uns zu beschweren“, „Ich verabscheue euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst“, „Ich wünschte, ich würde mich für Tennis interessieren“ und „Ich werde mich nie verändern“ wurden geradezu sprichwörtlich, „So jung kommen wir nicht mehr zusammen“ war es schon.

Tocotronic servierten 1996 zwei Sorten von Songs: die harten, schnellen Aufschläge wie „Ich habe geträumt, ich wäre Pizza essen mit Mark. E Smith“ -und die gravitätischen Crazy-Horse-Sonic-Youth-Gitarren-Mäander nach Art von „Ich möchte irgendetwas für dich sein“. Protestlieder in der ursprünglichsten, egozentrischsten, lustigsten Form und das tröstlichste Album jenes Jahres. Einige Live-Aufnahmen wurden bei der neuen Edition ergänzt. Die Interpunktion bleibt problematisch.

Bei der Enten-Platte „Es ist egal, aber“ (1997, ****1/2) war Dirk von Lowtzow mild gestimmt, weil er einen „Abend im Rotary Club“ verbracht hatte und die Hanseaten gar nicht so blöd waren. Dann bratzt in „Alles, was ich will, ist nichts mit euch zu tun haben“ und „Auf den Hund gekommen“ wieder der alte Blitz-Punk-Rock. „Vier Geschichten von dir“, „Der schönste Tag in einem Leben“ und „Liebes Tagebuch“ sind dagegen linde Liebes- und Lebenslieder von gar nicht unvermuteter Romantik.

Eine Harmonika („Sie wollen uns erzählen“) und ein Cello („Es ist mir egal, aber“) verbreiten Landluft und Elegie; im Folk-Rock von „Dieses Jahr“ zitiert Lowtzow „Hey Hey My My“. Neun Live-Mitschnitte von 1997, darunter eine herrliche Zehn-Minuten-Fassung von „Nach Bahrenfeld im Bus“, rühren ebenso zu Tränen wie das Stück „Meine Schwester“, das unheilvoll simmert und fiept wie ein Song von John Cale.

Im Jahr 1999 erschien das melancholische Großwerk „K.O.O.K.“ (*****) mit dem prächtigen Science-Fiction-Comic-Raumschiff auf dem Cover. Neben den gewohnten Slogan-Songs – „K.O.O.K.“ und „Let There Be Rock“- enthält das Quasi-Doppel-Album die ergreifendsten Tocotronic-Songs: „Jenseits des Kanals“, „Morgen wird wie heute sein“ und die abschließende gespenstische Ballade „17“ (mit Waldhorn!) offenbaren Weltschmerz von Hölderlinschen Ausmaßen.

Bei der schieren Länge des Albums wurden nur zwei Stücke ergänzt: „Ja“ und Take 2 von „K.O.O.K.“ Selten gab es solche Erhabenheit in der Rockmusik- und nie in der aus Deutschland. Stiesel, Elektrik und Poesie. (Rock-O-Tronic/Indigo)

Arne Willander