Tipp: Greil Marcus :: The History Of Rock’n’Roll In Ten Songs

Listen und Charts üben, so scheint’s, immer noch eine große Faszination aus. Das kann man nicht nur in dieser Ausgabe wieder am praktischen Beispiel erleben, das sieht man auch beim Besuch eines Buchladens – die Präsentiertische sind geradezu überschwemmt mit Titeln wie „111 Gründe, Yoga zu lieben“, „111 Orte im Emsland, die man gesehen haben muss“ oder „111 Lieder fürs eigene Begräbnis“. Da ist Greil Marcus mit seinen gerade mal zehn Songs, anhand derer er die Geschichte des Rock’n’Roll erklären will, geradezu bescheiden. Zugleich scheint diese Beschränkung auf den ersten Blick auch von einer gewissen Ignoranz zu zeugen, denn selbst wenn man den Rock’n’Roll ganz eng fasste – von, sagen wir, Bill Haleys „Rock Around The Clock“ aus dem Mai 1954 bis zu Buddy Hollys Flugzeugabsturz im Februar 1959 –, scheint man mit knapp zwei Handvoll Liedern nur an der Oberfläche zu kratzen. Und Marcus’ Definition ist, so ahnt man schon, um einiges umfassender. Er liefert sie gleich in der Einleitung: Rock’n’Roll ist für ihn ein Netz von Assoziationen, ein Drama aus direkten und geheimnisvollen Verbindungen zwischen Songs und Künstlern, eine Geschichte darüber, wie ein Song sich über die Jahre von seinem Schöpfer emanzipiert und jenseits seines Ursprungs ein Eigenleben führt, und vor allem eine Sprache, die von sich behauptet, alles sagen zu können, „alle Wahrheiten offenbaren, alle Mysterien aufdecken und allen Restriktionen entfliehen zu können“.

Klingt vielleicht ein wenig überkandidelt. Klingt auf jeden Fall nach Greil Marcus, dem Mystiker unter den Musikhistorikern, der in seinen Texten immer neue Geheimnisse produziert hat, statt alte aufzudecken, und der diesmal gleich zu Beginn die Zeit in eine andere Richtung laufen lässt. Die offizielle Geschichtsschreibung, so sagt er nämlich, sei nur ein Teil der Wahrheit; der andere, der ihn weitaus mehr interessiere, sei die individuelle Erfahrung. Jeder Moment, in dem ein Song wie aus dem Nichts etwas Neues, Ungehörtes offenbare, einen „thrill of invention, of discovery“, könne der Ursprung des Rock’n’Roll sein – egal ob es sich um „Shake Some Action“ von den Flamin’ Groovies von 1976 handele oder um Amy Winehouse’ Interpretation von Phil Spectors „To Know Him Is To Love Him“ in einem BBC-Studio im Jahr 2006.

Greil Marcus bewegt sich also nicht chronologisch durch die Jahre, sondern entlang eines frei flottierenden Möbiusbandes aus Zeichen und Bedeutungen. „Pop time“ nennt er diese Zeitrechnung, die sich aus der Art und Weise ergibt, wie Songs und Filme die Geschichte plündern und nach ihrer eigenen Logik neu schreiben. So spricht beispielsweise Pinkie Brown, der Ganove aus Graham Greenes Roman „Brighton Rock“ von 1938, in der 2010er Verfilmung von Rowan Joffé, die im Jahr 1964 spielt, mit der Stimme von Ian Curtis aus Joy Divisions „Transmission“ von 1979, weil er von Sam Riley verkörpert wird, der in Anton Corbijns „Control“ von 2007 in die Haut des Sängers schlüpfte. Der The-Brains-Song „Money Changes Everything“ von 1978, den Cyndi Lauper 1984 in einer radikalen Umdeutung zum Hit machte, reist in den Nullerjahren vor seinen Ursprung zurück, als er sowohl von Lauper als auch vom Ex-The-Brains-Sänger Tom Gray als alter Folksong neu erfunden wird. Barrett Strongs „Money“ fand seine wahre Form erst in der Coverversion der Beat­les und seine Bestimmung in der Schlüsselszene in Andrew Dominiks Film „Killing Them Softly“ von 2012. R&B-Queen Beyoncé Knowles lüftet für einen Moment den Mantel aus Täuschungen und Schwindel, der sie zu dem gemacht hat, was sie heute ist, als sie im Leonard-Chess-Biopic „Cadillac Records“ die Bluessängerin Etta James spielt. Die gesamte Geschichte der Fab Four erkennt Marcus in ihrem Cover des Buddy-Holly-Songs „Crying, Waiting, Hoping“ während der „Get Back“-Sessions. „Guitar Drag“, ein Kurzfilm, der zeigt, wie der amerikanische Künstler Christian Marclay eine Gitarre hinter seinem Pickup-Truck herzieht, ist für Marcus nichts anderes als ein Reenactment der Legende um den amerikanischen Volkshelden John Henry.

Man muss den Marcus’schen Deutungen nicht unbedingt in jedem Fall folgen, aber während der Lektüre tut man es fast zwangsläufig, denn Marcus zu lesen ist wie einen Song zu hören. Man verliert sich in den oft langatmigen Beschreibungen von Hörerlebnissen, den manchmal rätselhaften Assoziationen und historischen Analogien wie in einer Melodie, der Färbung einer Stimme oder einem Rhythmus, die für drei Minuten der Mittelpunkt der Welt, die Verkünder einer Wahrheit, die Stifter einer Religion sein können.

Natürlich ist viel von Amerika die Rede in dieser Geschichte, doch meint Marcus hier nicht den Staat, nicht die Nation, sondern das Versprechen, das hinter diesem Namen steckt und das eben eng verbunden ist mit der Musik des Landes – nicht umsonst veranstaltet Präsident Obama, selbst ja das personifizierte (nicht eingehaltene) Versprechen, immer wieder Rock-, Folk-, Blues- und Soulkonzerte im Weißen Haus.

„The History Of Rock’n’Roll In Ten Songs“ ist eine Geistergeschichte, in der die Zukunft durch die Vergangenheit und die Vergangenheit durch die Gegenwart spukt. So wie Marcus diese Lieder hört und beschreibt, bewahrt er ihre Aura und zeigt, dass ihre Faszination nicht in ihrer Geschichte steckt, sondern im Hier und Jetzt, im Moment des Hörens und Wiederhörens. Rock’n’Roll handelt bei Marcus nicht von der Vergangenheit, sondern immer von der Gegenwart. (Yale University Press, ca. 20 Euro)

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