Tipp: Dallas Buyers Club :: Regie: Jean-Marc Vallée
Der Cowboy war Mitte der 80er-Jahre längst ein Auslaufmodell, obwohl damals noch ein ehemaliger Fernsehcowboy im Weißen Haus saß. Körperliche Arbeit wurde zunehmend abgeschafft. Die Möchtegern-John-Waynes und Provinz-Clint-Eastwoods, an denen das Ethos der Gründerarbeit wie ein erdiger Tabakgeruch haftete, verschwanden nach und nach wieder in der Prärie oder den Kleinstadtkaschemmen an einer staubigen Ausfallstraße. Ron Woodroof ist in Jean-Marc Vallées Hollywood-Debüt „Dallas Buyers Club“ so weit aus der Zeit gefallen, dass er nicht einmal mehr die Verfallserscheinungen seines eigenen Körpers bemerkt. Wie Papyrus spannt sich die Haut über das Gesicht, die Augen liegen tief in den Höhlen und sein breiter Texasboy-Swagger kann kaum überspielen, dass öffentlicher Auftritt und gesundheitliche Verfassung in einem krassen Missverhältnis stehen. Trotzdem treibt es Ron gleich in der ersten Szene mit zwei Groupies in einem Verschlag beim Rodeo, später genehmigt er sich eine Line Koks. Es bedarf schon einer gehörigen Portion Verblendung, den eigenen Gesundheitszustand so sträflich zu missachten, aber es sind eben auch die Achtziger. Bilder des todkranken Rock Hudson schärften gerade erst das Bewusstsein für einen gesellschaftlichen Mentalitätswandel.
Mit seinen Cowboy-Manieren stellt Ron einen Anachronismus dar, aber eine Routine-Untersuchung im Krankenhaus ergibt, dass die Zeichen der Zeit auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen sind. Die Ärzte stellen fest, dass er HIV positiv ist und noch 30 Tage zu leben hat. In der Realität von Ron Woodroof klingt das wie ein schlechter Scherz. Wie soll ausgerechnet er sich mit einer „ Schwulenkrankheit“ angesteckt haben? Den Ernst der Lage begreift er, als sich sein Gesundheitszustand dramatisch verschlechtert und frühere Freunde sich von ihm abwenden.
„Dallas Buyers Club“, der auf wahren Begebenheiten beruht, erzählt in zweierlei Hinsicht von einer Verwandlung. Ron durchläuft als Autodidakt eine Art Bildungsroman, vom homophoben Redneck zum homöopathischen Anwalt seines eigenen Lebens. Matthew McConaughey hat die Rolle des windigen Anwalts schon öfter gespielt, aber noch nie hat sie ihm so viel abverlangt. 20 Kilo soll er für die Dreharbeiten verloren haben, in Marktwert umgerechnet bedeutet das eine sichere Oscar-Nominierung. Nun gehört die körperliche Metamorphose spätestens seit Robert DeNiros Supersize-Diät für „Wie ein wilder Stier“ zum Standardrepertoire eines Charakterdarstellers, zu dem McConaughey dank einer beeindruckend geschmackssicheren Filmauswahl innerhalb weniger Jahre avanciert ist. Die eigentliche Leistung besteht allerdings darin, wie uneitel McConaughey seine Rolle mit Leben füllt.
Ron Woodroof ist keine Identifikationsfigur im klassischen Sinne, dafür spielt McConaughey ihn zu sehr als straßenschlauen Pragmatiker, der noch im Angesicht seines Todes ein Geschäft wittert. Weil die Gesundheitsbehörden mit der Freigabe von experimentellen Medikamenten damals noch extrem vorsichtig waren, steigt Ron kurzerhand zum Importeur illegaler Wirkstoffe auf, die andere AIDS-Patienten über eine Mitgliedschaft von ihm beziehen können. Zusammen mit der transsexuellen Queen Rayon (Jared Letos Comeback nach einem längeren Sabbatical mit 30 Seconds To Mars) baut er ein lokales Netzwerk – den titelgebenden Dallas Buyers Club – auf, der schnell die Aufmerksamkeit der FDA, der Food and Drug Administration, erregt. Ron wittert eine Verschwörung von Regierung und Pharmaindustrie, die das in hochdosierten Mengen giftige Präparat AZT an AIDS-Patienten testet.
„Dallas Buyers Club“ erzählt vom uralten Kampf zwischen David und Goliath und von der Selbstermächtigung des eigenen Körpers. Da AIDS unheilbar ist, so Rons Argument, könne keine Regierung ihm verbieten, sein Leben mit allen legalen und illegalen
Mitteln zu verlängern. Der Film verfällt darüber jedoch nicht in die Konvention des Gerichtsdramas, Regisseur Vallée geht es um etwas viel Prinzipielleres, dem auch die Vorwürfe ehemaliger Aktivisten, sein Film verdrehe die Tatsachen, wenig anhaben können: eine Empathie für zwei grundsätzlich verschiedene Lebensentwürfe. Denn „Dallas Buyers Club“ ist auch eine Liebesgeschichte. Ron und Rayon, der Cowboy und die Transe, finden im Angesicht ihres Todes zunächst aus pragmatischen, später auch aus zwischenmenschlich durchaus nachvollziehbaren Gründen zusammen und liegen sich bis zum Ende in den Haaren wie ein altes Ehepaar. Allein für diese ganz unpathetische Wendung hätte Vallées Film einen Oscar verdient. In heruntergehungerten Kilos lässt sich eine solche Leistung unmöglich aufwiegen.