The Rolling Stones
„Sticky Fingers“
Einer immer wieder gern kolportierten, weil von Jim Dickinson irgendwann in die Welt gesetzten Anekdote zufolge zerstörte Mick Jagger höchstpersönlich nach den drei Tage währenden Aufnahmen in den Fame Studios in Muscle Shoals sämtliche nicht mehr benötigten Takes und Session-Tapes, um Raubpressungen so auf jeden Fall auszuschließen. Die Master nahm er angeblich selbst unter Verschluss, bevor die Band am 4. Dezember nach San Francisco flog, um sich dort auf den Auftritt am Altamont Speedway vorzubereiten.
Ein frommes Märchen, denn von den dort eingespielten „You Gotta Move“ „Brown Sugar“ und „Wild Horses“ gibt es natürlich genauso wie von den Olympic Sessions vorher („Sister Morphine“ mit anderen, teils wesentlich längeren Ry-Cooder-Soli und Jack-Nitzsche-Beiträgen) und nachher („Silver Train“, „I Got The Blues“ und die Früh-Fassungen anderer, erst auf späteren LPs auftauchender Songs) auf Bootlegs zirkulierende Versionen.
Nachträglich kann man nur bedauern, dass Jagger und Richards nicht mehr Zeit eingeplant hatten, um vom genius loci zu profitieren (organisiert hatte alles, strengstens vor Allen Klein geheim gehalten, Ahmet Ertegun, der wenige Jahre vorher den Kollegen Jerry Wexler mit Aretha Franklin in dasselbe Studio beordert hatte) und in dieser kreativen Hochphase noch mehr Songs wie das förmlich aus dem Ärmel geschüttelte „Wild Horses“ zu schreiben.
Stattdessen wurde „Sticky Fingers“, anders als die letzten weithin in den OIympic Studios produzierten LPs, ein ganz außerordentliches Patchwork von stilistisch höchst unterschiedlichen Songs – in klangtechnisch höchst variabler Qualität. Jimmy Miller hatte das alles auch bei den Stargroves-Sessions (die ja eigentlich unter den erst viel später groß in Mode gekommenen home recording-Bedingungen stattfanden) noch einigermaßen im Griff. Tatsächlich definierte „Sticky Fingers“ den neuen Rolling Stones-Sound. Mit dem begann so richtig das, was man auch als ihre Mick Taylor-Ära bezeichnen kann. Auf sein Konto gingen in diesen Jahren aus dem gewohnten Rahmen fallende Produktionen wie „Moonlight Mile“, „Winter“ und „Time Waits For No One“.
Nur waren die Bedingungen, unter denen die folgenden Platten entstanden, nicht jederzeit und unbedingt das, was man als schöpferisches Chaos betrachten darf. Über viel Leerlauf bei den Aufnahmen zu „Exile On Main St.“– für Jagger ein entnervender Marathon- hat sich der bald bitter beklagt, Tonmann Andy Johns gestand zudem, dass man immer mehr technische Schlampereien durchgehen ließ. Bei „Goats Head Soup“ hatten so viele Köche irgendwie den Brei verdorben, dass Jagger/Richards erstmals als die Glimmer Twins bei den Musicland-Sessions die Regie übernahmen.
„It’s Only Rock’n‘ Roll“ knüpfte in mehr als einer Hinsicht an Qualitäten von „Sticky Fingers“ an, während man bei den öfter dürftigen handwerklichen, nicht so ganz hochprofessionellen Aufnahmen von „Black And Blue“ grübeln durfte, ob die beteiligten Tonleute wirklich immer konzentriert bei der Sache gewesen waren. Die Band ging mit einem oft „abwesenden“ Keith so ratlos und planlos zu Werke auf der Suche nach einer neuen Identität, dass Lester Bangs damals meinte, schon verfrüht ihr baldiges Ableben verkünden zu können.
Die Platten dieser Jahre liegen in drittem bzw. viertem Remastering für CD vor. Zugaben in Form von Kennern sattsam geläufigen Outtakes („Brown Sugar“ in der Keith-Richards- Geburtstagsparty-Version mit Clapton) mochte man auch für die neuesten Ausgaben nicht freigeben. Wer noch die ersten Vinylpressungen dieser LPs im Plattenschrank hütet, wird feststellen: Der klangliche Mehrwert hält sich im Vergleich zu denen wieder sehr in Grenzen.
Gegenüber den letzthin Anfang circa 2002 mal von Bob Ludwig vorgenommenen Neuüberspielungen wurden die neuen mit gerade noch maximal zulässigem, jetzt um weitere vier Dezibel angehobenem Pegel remastered. Der resultierende Kompressionseffekt nicht deswegen nicht gleichbedeutend mit höherer Klangqualität. (Universal)