The Replacements

Tim

Vor 30 Jahren veröffentlichten die Replacements ihr Majorlabel-Debüt "Tim". Auf der Welle der Aufmerksamkeit, die dem amerikanischen Indierock in der Folge zuteil wurde, sollten später andere reiten – "Tim" aber ist ein Meilenstein hemdsärmeliger Riffs und introspektiver Songwriterkunst.

„Tim“, das Majorlabeldebüt der Replacements, löste eine Lawine aus, ohne dass sie groß bemerkt wurde. Zum ersten Mal unterschrieb hier eine Band, die im weitesten Sinne dem amerikanischen Punk-, Hardcore und Independent-Underground zuzuordnen war, bei einem Majorlabel. Das wurde zur Kenntnis genommen, damals aber nicht als die einschneidende Grenzverschiebung angesehen, die es de facto war. Größere Bedenken um die künstlerische Integrität der eigenen Lieblingsband lösten da schon die Wechsel anderer Bands zum Major aus, etwa R.E.M., Hüsker Dü und Sonic Youth in den Folgejahren. Spätestens bei „Nevermind“ von Nirvana waren 1991 dann alle Grenzen zwischen Mainstream und Underground zerbröckelt. Es ist kein Zufall, dass ein Song auf „Pleased to Meet Me“ (1987), dem „Tim“-Nachfolger der Replacements, „Never Mind“ heißt.

Jedoch arbeiteten die Replacements nicht an der Schnittstelle zwischen Punk und Free Jazz wie Sonic Youth, waren nicht von einer geheimnisvollen Aura umschlungen wie R.E.M. und auch nicht beim kultischsten und stilprägendsten aller damaligen amerikanischen Indielabels, SST, unter Vertrag. Schon allein deshalb war im Fall der Replacements der Wechsel zur großen Plattenfirma nicht kulturrevolutionär motiviert, sondern eine pragmatische Entscheidung – ihr lokales Minneapolis-Label Twin/Tone war ab „Let It Be“ (1984), was Finanzen und Promotion anging, schlicht überfordert.

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Die Replacements, oder „Mats“, wie sie von ihren Fans augenzwinkernd genannt wurden, waren vor allem eine Rock ‚N‘ Roll-Band ohne konzeptionellen Überbau, Songwriter Paul Westerberg und Co. machten keinen Hehl aus ihrer Liebe für klassische, himmelstürmende Drei-Minuten-Fanale – und klangen dabei wahlweise wie eine Hair-Metal-Band auf kratzigem Lo-Fi-Aufnahmegerät oder wie teen-angst geplagte The Clash aus der Vorstadt.

UNITED STATES - DECEMBER 16: Photo of REPLACEMENTS and Slim DUNLAP and Paul WESTERBERG and Chris MARS and Tommy STINSON; Posed group portrait in the street - Slim Dunlap, Paul Westerberg, Chris Mars and Tommy Stinson (Photo by Ebet Roberts/Redferns)
Slim Dunlap, Paul Westerberg, Chris Mars und Tommy Stinson (Foto: Ebet Roberts/Redferns)

Die heldenhafte Verehrung, die den Replacements schon zu Lebzeiten zuteil wurde, lag vor allem darin begründet, dass sich die Band nie zu ernst nahm. Mit ihrer dilettantischen Nonchalance und den hemdsärmeligen Gesten waren die Replacements Vorbild für alle antriebslosen nicht-so-ganz- Dazugehörer, die im konservativen „It’s morning in America“-Narrativ der Reagan-Ära kein Zuhause fanden. Die Replacements kamen aus Minnesota, dem einzigen US- Bundesstaat, der bei der Präsidentschaftswahl 1984 nicht für Ronald Reagan gestimmt hatte. Da war es dann auch egal, steigerte es die Identifikationsmöglichkeit fürs Publikum im Gegenteil eher noch, dass Westerberg und Co. live je nach Tagesform „either the best or the worst band on the planet“ waren, wie Augenzeugen immer wieder berichteten.

Eine Platte wie ein improvisiertes Konzert

„Tim“ ist auch deshalb eine Pioniertat, weil es die Dynamik lauter Gitarrenriffs mit ruhigem Songwriter-Einsatz verbindet – ein aus heutiger Sicht kaum erwähnenswerter Genrespagat. Damals allerdings zeigte Gitarrist Bob Stinson deutlich sein Desinteresse daran, die weniger rockigen Songs der neuen Platte live zu spielen, daraufhin wurde er gefeuert. Den Dualismus laut/leise sollten sich nichtsdestotrotz viele nachfolgende Bands zu eigen machen. Wo aber z.B. die Pixies eine dramaturgisch kalkulierte Schockwirkung im Sinn hatten und Kurt Cobain innere Seelenkämpfe in Brachialakkorde übersetzte, hatte man bei Paul Westerberg auch auf Platte stets das Gefühl, einem überschwänglichen, improvisierten Konzert beizuwohnen, bei dem hitzige Rocksongs und stille Balladen Folge impulsiver Entscheidungen waren. Oder wie Westerberg selbst es einmal formulierte: „Sometimes you just love the little acoustic songs, and other times you want to crank the goddamn amp up, and those two parts of me are forever entwined“.

Photo of Replacements

Schon in das Eröffnungsstück von „Tim“, „Hold My Life“ stolpert die Band hinein, ganz so, als seien sie nicht in der Lage, mit ihrer Energie auch nur eine Sekunde länger innezuhalten – dabei hatte Paul Westerberg es ja überhaupt nicht eilig. „Hold my life until I’m ready to use it“ ist ganz sicher eine der schönsten Zeilen adoleszenter Verlorenheit in der Popmusik, die damals wie heute allenfalls noch Morrissey so vortragen könnte.

In „Kiss Me on the Bus“ singt Westerberg dann von vergeblicher Romanze und ins Leere laufenden Blickwechseln im Schulbus, während die Replacements der E Street Band in ihren schwungvollsten Momenten in nichts nachstehen. Das schwärmerische „Swingin‘ Party“ nimmt den Alt-Country der Jayhawks und Wilco vorweg, in „Left of the Dial“ kann man Nirvana geradezu bei der Geburt beiwohnen, bevor mit „Here Comes the Regular“ ein melancholischer Akustiksong „Tim“ beschließt, wie Bruce Springsteen ihn nicht anrührender hätte singen können.

Das Versprechen des DIY

Und obgleich bei all diesen Songs Paul Westerbergs Verehrung für Alex Chilton und Lou Reed nie zu überhören ist, definiert sich der Kult-Charakter der Replacements zum großen Teil über die Tatsache, dass sie eine Stimme in die amerikanische Rockmusik brachten, die es so vorher nicht gab: Eine Kombination von aus der Verliererperspektive vorgetragenen, selbstironischen Texten und dem wahlweise naiven oder großartigen Glauben an die erlösende, Leben verändernde Kraft eines Rock ‚N‘ Roll-Songs in drei Minuten, gespielt von vier Provinzjungs aus dem mittleren Westen.

Folgt man der Einschätzung der meisten Fans und Kritiker, dann ist all das auf „Let It Be“ am überzeugendsten zu hören, gilt die Platte doch den meisten als das Meisterwerk der Replacements. Und obschon dem schwer zu widersprechen ist, erreichen Paul Westerbergs Songwriting und das Zusammenspiel der Band erst auf „Tim“ ihren eigentlichen Höhepunkt. Zwischen süffigem Punkrock und balladesker Introspektion ist die Platte der kohärenteste Entwurf der Band, auch wenn ihre besten Einzelsongs vielleicht anderswo zu finden sind.

Einer ihrer größten Songs aber, „Bastards of Young“, ist das Herzstück von „Tim“. Westerbergs desillusioniertes Drifter-Manifest wird hier von johlenden Gitarren überhöht und mündet schließlich in einem der hymnischsten Refrains der Achtziger. In dem trostlosen Zukunftsentwurf steckt auch eine ironische Allegorie auf den Weg der Replacements von der Obskurität der frühen Jahre zum bescheidenen Erfolg: „God what a mess / on the ladder of success / where you take one step and miss the whole first rung / dreams unfulfilled, graduate unskilled / it beats pickin‘ cotton and waitin‘ to be forgotten“.

Die Replacements mögen die „sons of no one“ gewesen sein. Dafür aber waren sie auch die Väter einer ganzen Generation amerikanischer Indiemusiker/innen, die in den Neunzigern noch einmal das alte Versprechen von DIY und Rock ‚N‘ Roll lebten.

Slim Dunlap (L) und Paul Westerberg (R) (1987)
Slim Dunlap (L) und Paul Westerberg (R) (1987)
Ebet Roberts Redferns
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