The Kinks

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Sanctuary/Universal

Über Kapital und Klassengesellschaft, Nutten und Alkohol, über Helden der Leinwand, die bescheidenen Sehnsüchte sogenannter kleiner Leute und das Geschäft mit Illusionen schrieb er einige der denkwürdigsten Popsongs. Jedenfalls ein wenig später, als er schon mehr als ein bisschen desillusioniert seinen ersten Nervenzusammenbruch hinter sich hatte.

Begonnen hatte für Ray Davies alles so richtig mit mehreren Beiträgen zur Gattung Garagenrock, die er als Klassiker des Genre weit über „Louie Louie“ hinaus auf ein ganz ungeahntes Niveau hob und die The Kinks weltweit auf Anhieb berühmt machten. Für eine Band, die jahrelang erfolglos unter dem Namen The Ravens ein Auskommen gesucht hatte, gab sie sich ganz im Gegensatz zu den Beatles, Rolling Stones oder Who – dem Live-Repertoire und den Cover-Versionen der frühen Jahre nach zu urteilen- ziemlich unbeeindruckt von den damals schwer angesagten Chess-, Atlantic- oder Motown-Stars.

Schon bald outete sich Ray Davies mit Songs wie „See My Friends“, „Wait Till The Summer Comes Along“ oder „Where Have All The Good Times Gone“ als Nostalgiker. Kino der großen Gefühle inspirierte ihn zum Pop-Evergreen „Waterloo Station“. Über den nicht stattfindenden Klassenkampf im noch industrialisierten England schrieb er Lieder wie „Dead End Street“ und träumte sich ansonsten gern mit anderen wie „I’m On An Island“, „Lazy Old Sun“ und „Holiday In Waikiki“ weit weg in ferne Länder.

Dem Pianisten Nicky Hopkins, der ihnen in all den Jahren treu diente, setzte er mit „Session Man“ ein musikalisches Denkmal. Ein gänzlich unironisches wohlgemerkt für jemanden, der ansonsten öfter wie bei „Mister Pleasant“ auch schon mal für satirische Vignetten in Songform bekannt war. Als die Band dann nach „Face To Face“ und „Something Else“ mit „The Kinks Are The Village Green Preservation Society“ ihr bis dahin ehrgeizigstes Projekt vorlegte, liefen sie damit kommerziell komplett auf Grund. Paul Williams schrieb damals eine ellenlange Hymne über die Platte („Oh, wonderful Kinks. They remind me of Erik Satie…“). Aber wie im eigenen Land schaffte es die Platte auch in Amerika nicht mal in die untersten Ränge der LP-Hitparade.

Nur wenig erfolgreicher war die folgende Granada TV-Auftragsproduktion, der Soundtrack zu „Arthur Or, The Decline And Fall Of The British Empire“. Das nächste war dann auch ein- allerdings lockerer gestricktes- Konzeptalbum. Nur enthielt dieser Songzyklus über das Musikgeschäft mit „Lola“ und „Ape Man“ zwei unwiderstehliche Ohrwürmer, die der Band das (Über-)Leben auf viele Jahre hinaus ermöglichten. Ein Jahr später knüpften sie mit „Muswell Hillbillies“ noch einmal an alte Größe an.

Das nächste Vierteljahrhundert zehrten sie- vom nett-belanglosen Ohrenschmeichler „Come Dancing“ abgesehen- von der Glorie der frühen Jahre. Wer glaubt, dass es eine der einfacheren Übungen sein müsse, mit den Höhepunkten aus knapp zwei Dutzend LPs in drei Jahrzehnten Kinks Label-übergreifend auf nun immerhin sechs CDs das definitive Box-Set zu destillieren, der irrt. Irgendwer traf hier offenbar die Entscheidung, dass- ganz unabhängig von der tatsächlichen Qualität der Songs- alle Schaffensphasen quantitativ weitestgehend identisch zu präsentieren seien.

Die sechs Songs von „Lola Versus Powerman And The Moneygoround“ sind die meisten aus einer individuellen LP ausgewählten. Ansonsten beließ man es pauschal- auch im Fall der Konzept-Platten- bei drei bis vier pro LP, reicherte das Set um etliche Live-Mitschnitte und viele Raritäten an, von denen die wenigsten wiederum nur näherungsweise als denkwürdig oder gar Offenbarung bezeichnet werden können. Immerhin wurden ein paar ganz wunderbare Songs aus dem „Percy“-Soundtrack wie „God’s Children“ und „The Way Love Used To Be“ berücksichtigt, letzteres ein famoses Stück Barock-Pop, das alle Kinks-Kultisten lieben.

Die dürften hier wiederum quintessenzielle Ray-Davies-Kompositionen wie „Afternoon Tea“ und „Dandy“, „Phenomenal Cat“ und „Starstruck“, „Dreams“ und „I’ll Remember“, „People Take Pictures Of Each Other“ und ein paar andere schmerzlich vermissen, die absolut unverwechselbar Davies‘ Rang als Songschreiber genauso definierten wie „Sunny Afternoon“, „Too Much On My Mind“ oder „End Of The Season“. Und „Days“, vielleicht der größte überhaupt, Erinnerung an glückliche Tage.

Die Suche nach der Vergangenheit trieb ihn immer wieder um, auch bei „Do You Remember Walter?“, hier der vorletzte von 137 Songs, den er- ein Konzertmitschnitt -ankündigt mit der Erläuterung: „This is one of our Bavarian songs.“