Sonic Youth
20 Jahre „A Thousand Leaves“
„A Thousand Leaves“: Das letzte Meisterwerk von Sonic Youth.
Es war das erste Mal für Sonic Youth, dass aus ihren Songtiteln eine Schönheit sprach, die zugewandt statt abwehrend erschien: „Hits Of Sunshine (For Allen Ginsberg)“ und „Wildflower Soul“, die Titel! Die Musik klang auch so. Poetisch, sich entfaltend, schillernd, blumig, gelb. Das eine war elf, das andere neun Minuten lang. Sie enthielten Instrumental-Passagen und ein fast schon jazziges Zusammenspiel, Thurston Moore hauchte seine Wörter mehr, als dass er sie rief. 17 Jahre nach Bandgründung entdeckten Sonic Youth ihre Art von Free Form.
„Her lush eyes / Show surprise / At how we could gather knowledge“, so berichtet Moore von seiner Bewusstseinserweiterung. Oder „They blow away / Leaves falling to the water/ Wildflowers“, die Feier der flüchtigen Töne.
Mit „A Thousand Leaves“ erschien 1999 das zehnte Album des Quartetts, nach ihrer bislang längsten Plattenpause von drei Jahren. Einiges wurde neu aufgestellt. Moore sang ein Gute-Nacht-Lied für die Tochter („Snare, Girl“), Lee Ranaldo widmete sich nun der Natur statt New York („Hoarfrost“). Nur Kim Gordon setzte sich weiterhin für Gleichberechtigung ein („Female Mechanic Now On Duty“) – aber das Problem mangelnder Gleichberechtigung ist ja auch bis heute ungelöst.
Selbst heute, 20 Jahre später, wirken die Vier noch nicht alt, aber schon damals konnte man ihr Alter nicht glauben: Gordon war 45, Moore 40, Ranaldo 42 und Nesthäkchen Steve Shelley 36. Und eben diese Fortysomethings veröffentlichten mit „A Thousand Leaves“ unerwartet die Gitarren-Platte des Jahres. Der Zeit entsprechend wurde das natürlich Post-Rock genannt, aber schon damals wusste eigentlich niemand so genau, was Post-Rock eigentlich sein soll.
Nur mit dem Clip zu ihrer Single „Sunday“, gedreht von Harmony Korine („Kids“), stellten Sonic Youth eine unnötige Zeitgeistigkeit zur Schau. Darin trat der gefallene Ex-Kinderstar Macaulay Culkin auf, nun plötzlich hip geworden. Es war ein einziges Augenzwinkern. Seit den 1990er-Jahren nahm man Sonic Youth stärker im Kontext der Popkultur wahr statt im Kontext der Politik, wie noch zu den „Reagan Nation“-Zeiten von „Daydream Nation“ 1988. In der aktuellen Popkultur galten sie als Paten von Kurt Cobain und Nirvana. Sie waren der Ältestenrat des Alternative Rock.
Der Verlust eines Sounds
„A Thousand Leaves“ war mehr ein Thurston- als ein Kim-Album, so, wie „Experimental Jet Set, Thrash and No Star“ von 1994 eher ein Kim- statt Thurston-Album gewesen war. Das hing bei „A Thousand Leaves“ weniger mit dem von Kritikern immer stärker monierten kehligen Gesang Gordons zusammen, als schlicht mit der längst vertrauten Perspektive, die ihre Lieder aufwarfen. Die größere Weitsicht auf dieser Platte hatte Moore. „Hits Of Sunshine“, „Wildflower Soul“ und „Snare, Girl“ boten Sonic Youth, die sonst mit Lärm und Lautstärke bis zum Exzess improvisierten, eine ruhigere Souveränität.
Gleichzeitig setzten sie den mit „Experimental Jet Set, Trash and No Star“ eingeschlagenen Weg fort, auf das Strophe-Refrain-Muster weitestgehend zu verzichten. Stattdessen reihten sie verschiedene Melodien und Tempi wie Cut & Paste aneinander, wie in „Female Mechanic Now On Duty“ oder „Heather Angel“.
Es war auch die letzte Platte, bevor ihr Equipment aus einem Tourbus gestohlen wurde. Was nicht nur den Verlust von Geräten bedeutete, sondern auch den Verlust eines über Jahre verbesserten Sounds. Auch das verleiht diesem Werk einen Wert, einen archivarischen.
Mit dem Vorgänger „Washing Machine“ (1995) und nun „A Thousand Leaves“ schienen Sonic Youth an ihrem Ziel angekommen. Einem differenzierten Schema, in dem jede Gitarre gleichzeitig wie drei klingen konnte, und wirklich jedes Feedback wie exakt steuerbar anmutete. Die perfekte Kontrolle über das Chaos, in dem Jams trotzdem möglich waren.
Und dann klaute ihnen ein aufmerksamer Dieb alles weg. „Jetzt spielt Thurston auf einer Gibson!“, sagte Lee Ranaldo halbspöttisch vor den Aufnahmen des Nachfolgers „NYC Ghosts & Flowers“ (2000), jenem viel geschmähten Werk, das aber nicht wegen seines dünnen Klangs enttäuschte, sondern wegen der schwachen Songs. Ex-Punk Moore arbeitete nun auch mit einer Gitarre, die für pompösen Hardrock stand.
Das Material auf „A Thousand Leaves“ war derart episch, dass Sonic Youth, sonst nie bekannt gewesen für lange Live-Auftritte, ihr 1998er-Tournee fast ausschließlich mit den neuen Songs bestückten, versetzt mit den EPs der „Sonic Youth Recordings“, ihren noch experimentelleren Instrumentals, die man Geffen gar nicht erst anzubieten brauchte. Auch die Konzerte standen für Aufbruch, fürs erste gab es kein „100%“, kein „Teenage Riot“, kein „Kool Thing“ mehr. Als letzte Zugabe kam zumindest noch ein „Death Valley `69“.
Der neue Fokus war in Ordnung, da man die Band gerne auf dieser Reise begleitete. Man wusste, wenn sie irgendwann mal schlechter werden, könnten sie ja immer noch die Klassiker spielen, und alles ist gut. Von da an sollte es Sonic Youth noch 13 Jahre geben.