Scissor Sisters
„Night Work“
Ist night work die ermüdende, unbefriedigende Variante des nightlife? Sind die Schichtarbeiter gemeint? Die Krankenschwestern, Polizisten und … hm… Bäcker? Oder all die im Nachtleben arbeitenden Türsteher, DJs und Barkeeper? Die Damen und Herren, die von den Steuerentlastungen der FDP profitieren? Haarscharf vorbei. „I dreamed one day I’d been living of this system for free/ But dreams come true, honey, welcome to my reality“, singen die Scissor Sisters im Titelsong ihres dritten Albums und erzählen die Geschichte vom Jungen, der den Eltern sagt, er habe einen normalen Job, dabei verschläft er den ganzen Tag, um abends den Zug in die Stadt zu nehmen, zu den bunten Lichtern und den Clubs, den Fantasien und Utopien.
Night work ist also natürlich die Arbeit am Traum. Vielleicht erzählt Sänger Jake Shears hier von seinen Jahren als Stripper in einer Gay-Bar im New Yorker East Village, als er – um es mit den Pet Shop Boys zu sagen – ein „New York City Boy“ war: „Home is a boot camp you gotta escape/ Wanna go and wander in the ticker tape.“ Natürlich hat das was von John Travolta, der in „Saturday Night Fever“ tagsüber ein kleiner Verkäufer und nachts ein König ist.
Auch musikalisch sind wir schon ganz richtig in der Disco-Epoche, das dürfte bei den Scissor Sisters ja kein Geheimnis sein. Und diese Band, die einst selbst dem letzten Am-Rand-des-Dancefloors-Steher jede Ausrede raubte und ihre unwiderstehlichste Tanznummer „I Don’t Feel Like Dancin'“ nannte, liefert ab, wie man so auf Neudeutsch sagt. Jeder Song ist ein Hit, zieht sämtliche Hüte vor den Bee Gees, Gary Numan, den Pet Shop Boys, ABBA, den Village People, den Sparks und – nicht mehr ganz so oft wie auf dem letzten Album – Elton John. Klingt nach Schwulendisco? Und ob das nach Schwulendisco klingt! Nur die Single „Fire With Fire“ erinnert eher an mädchenabendhaften Robbie Williams.
Jake Shears und Ana Matronic singen von der Einsamkeit auf der Tanzfläche, von Sex, Gewalt und notfalls auch von Beziehungen. „You can find your life in the nightlife“, heißt es gegen Ende. Von Arbeit ist da keine Rede mehr. Der Traum ist Wirklichkeit geworden. Und dann kommt ja noch die sechseinhalbminütige Vorab-Single „Invisible Light“, bei der Shears mit viel Pathos vom gelobten Land kündet, ein billiger Disco-Beat einsetzt, ein Wegwerf-Refrain drübersuppt, und der zum Sir geadelte Shakespeare-Mime Ian McKellen bedeutungsschwanger von „sexual gladiators“ und dem „sparkling theatre of excess“ parliert. Seit Antony und Rufus Wainwright „The Old Whore’s Diet“ sangen, hat man so etwas Herrliches nicht mehr gehört. Musik für die Zeit, wenn die Sonne unter- und die Metropole aufgeht. „Night On Earth“, the Scissor Sisters way. (Polydor/Universal)
Maik Brüggemeyer