Radiohead: „Kid A Mnesia“ – in einer Welt am Abgrund

Zwei experimentelle Großwerke der Briten in einer Box mit spärlichen Extras

Die Jahrtausendwende war die Zeit von Begriffen wie Glitch, Clicks & Cuts und Gefrickel, Rocker hörten Autechre und Aphex Twin, und Radiohead­Bassist Colin Greenwood lobte das Berliner Label Morr Music als bahnbrechend. Radiohead würden jedoch die einzige Band sein, die mit dem Indietronic getauften Sound einen Welterfolg erzielen sollten: „Kid A“ schaffte es im Jahr 2000 auf die Eins der „Billboard“­ Charts, obwohl Gitarren erst 15 Minuten nach Albumbeginn zu hören waren, im vierten Song. Es er­ zählt vom überforderten Ich in der unkontrollierten Netzsphäre, dem Wunsch nach Ordnung im Seelenle­ben („Everything In Its Right Place“) und dem Wunsch, sich aufzulösen („How To Disappear Completely“). Die Überraschung über die elektronische Plat­te einer Rockband war der­ art groß, dass schnell die Floskel „to do a Kid A“ kursierte – gültig für jeden Künstler, der vermeintliche Grenzen sprengt.

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„Amnesiac“ erschien acht Monate später, im Mai 2001, und erlebte eine gespenstische Aufführung beim Berlin-­Konzert am 11. September. 9/11 kappte Verbindungen zwischen den Zwillingsalben. „Amnesiac“ ist nicht gelungener, aber mutiger. Es hört sich an wie eine Singles-­Sammlung inklusive experimenteller B­-Seiten und bleibt mit den Terroranschlägen verbunden, der Angst vor einem Dritten Weltkrieg. Das Cover ziert ein weinender Minotaurus. Thom Yorke attackierte sei­ ne Lieblingsfeinde George W. Bush und Tony Blair in „You And Whose Army?“, das Lied beschreibt eine Politik, in der das Öl die sogenannten Präventionskriege bestimmt – mit Ausbruch des Dritten Golfkriegs 2003 erhielt es einen Ehrenplatz in den Konzerten, im Zugabenblock. Das Instrumental „Hunting Bears“ klingt ebenso meditativ wie verstörend, die Gitarre zieht ihre Bahnen wie eine Klin­ge, die langsam die Luft zerschneidet. Als Radiohead „Hunting Bears“ gleich als zweites Stück bei ihrem 9/11­ Gig aufführten, war das ein Showstopper, der Setlist­-Gesetzen widersprach – und gerade deshalb den Irrsinn widerspiegelte, wie er in der Welt von nun an herrschte.

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„Amnesiac“ zementierte das „Kid A“­Konzept, nach dem Radiohead nur noch dann Rockmusik machen wür­ den, wenn sonst keine andere Studio­-Idee zündete. Es stieg in den USA auf Platz 2 ein, einen hinter „Kid A“, verkaufte sich aber noch besser als der Vorgän­ger. Gewagt, gewonnen. Fortan jedoch mussten Ra­diohead sich an diesem Album messen lassen.

Beide Platten zählen zu ihren besten, aber die Doppel-­Edition enttäuscht etwas durch spärliche Extras. Über Jahre kokettierten Ra­diohead mit einer unveröf­fentlichten Zehn-­Minuten- Fassung von „Treefingers“, stattdessen liefern sie nun zwölf Outtakes, die kaum Einblick in ihre aufregends­te Studiozeit bieten. „Knives Out“ gilt als Musterbeispiel für ihren Perfektionismus, die Band sagte, es existieren hundert Fassungen dieser Smiths­Hommage. Nicht eine davon findet sich hier. Stattdessen Ein­-Minuten- Snippets mit Atmosphären­ klängen sowie die nicht mehr rückwärts abgespiel­te, sondern korrekt ablaufende Fassung von „Like Spinning Plates“, die aus dem Experiment eine zah­me Klavierballade macht.

Einzig die isoliert präsentierten Streicher von „How To Disappear Completely“ dokumentieren die Akribie, mit der Radiohead sich verändern wollten. Gitarrist Jonny Greenwood arrangierte jene Avantgarde­-Klassik, die aus ihm einen gefragten, später Oscar-­nominierten Soundtrack­-Komponisten machte. Das größte Versäumnis: ein Konzert­video. Radiohead zeichneten vieles auf und stellten es später auch auf YouTube, ihre Live­Versuche mit Loops sind legendär – und Thom Yorkes Kampf damit lustig anzusehen.

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