PJ Harvey
„I Inside The Old Year Dying“
Partisan (VÖ: 7.7.)
Ein versponnenes Wunderwerk aus Naturlyrik und unheimlichen Klängen
Auf ihrem letzten Album, „The Hope Six Demolition Project“, versuchte PJ Harvey sich vor sieben Jahren als singende Reporterin, berichtete von ihren Besuchen sozialer Brennpunkte und von Kriegsgebieten. Die Politisierung ihrer zutiefst privaten und intimen Kunst, die auf „Let England Shake“ (2011) noch überraschend und dringlich erschienen war, wirkte seltsam ziellos und aufgesetzt.
Ein versponnenes Wunderwerk, Naturlyrik und Tandaradei
Aber es gibt wohl keine Künstlerin, die es besser versteht, sich aus solchen kreativen Sackgassen herauszuziehen, indem sie ihre Kunst wieder auf den Glutkern reduziert: die eigene Geschichte und den eigenen Körper. Dieses Mal ging sie einen Umweg, durch die Landschaft ihrer Kindheit in der südwestenglischen Grafschaft Dorset. In der Mundart jener Gegend schrieb sie den von lokalen Mythen und Gebräuchen gesättigten Gedichtband „Orlam“, in dem sie der neunjährigen Ira in deren märchenhafte West-Country-Welt folgt.
Und dort beginnt auch „I Inside The Old Year Dying“. Orlam, dieser aus dem Augapfel von Iras geliebtem Lamm hervorgegangene Waldgeist, der auf einer Ulme sitzt, wacht im ersten Song über Leben und Tod, Vergangenheit und Gegenwart. Vögel zirpen, Farne kräuseln sich, der Ozean tobt, ein Mädchen im Schulbus mit Pepsi und Erdnuss- und-Bananen-Sandwiches im Ranzen spitzt die Lippen: „Are you Elvis? Are you God?/ Jesus sent to win my trust?/ ‚Love Me Tender‘ are his words/ As I have loved you, so you must …“ Natürlich geht es hier um den Verlust der Unschuld, es geht um Liebe, und es geht um Gott.
„I Inside The Old Year Dying“, das Harvey zusammen mit John Parish und Flood produzierte, ist ein versponnenes Wunderwerk, ist Naturlyrik und Tandaradei, ist eine Geistermusik aus altertümlichen Wörtern und unheimlichen Klängen, aus Folk, Elektronik und Noise; aus Melodien, die schon immer hier gewesen sein müssen, und vielen Stimmen – gewispert und gezischelt, gefleht und gesungen –, die (fast) alle in PJ Harvey ihren Ursprung haben. Es ist zugleich undurchdringlich und unwiderstehlich, so als hätte Scott Walker in den Neunzigern ein Comeback-Album von The Mamas & The Papas produziert, auf dem der Geist von Mama Cass die Harmonien singt. Love me tender.