Peter Gabriel
„i/o“ – Ein später Sisyphos
Virgin (VÖ: 1.12.)
Peter Gabriel gibt sich als Common Man mit großer Stimme und Humanismus-Keule.
An Voll- und Neumond kam uns Peter Gabriel 2023 Stück für Stück näher, mit den ersten neuen Songs seit 21 Jahren, im Bright-Side Mix von Mark „Spike“ Stent oder in der Dark-Side-Version von Tchad Blake. Einen In-Side Mix (Hans-Martin Buff) gab’s obendrauf. Das mag konsequent sein, wenn dem Künstler der Prozess wichtiger ist als das Produkt. Doch hat diese Transparenz (oder Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen?) zur Folge, dass Vinyl-Freunde gleich zwei Doppelalben von „i/o“ erwerben dürfen, wenn sie eine Mix-Mischung bevorzugen. Verbrauchertipp: So himmelstürzend ist der Unterschied nicht.
Leise-feierliche Reflexionen über Erinnerung, Sterblichkeit, Optimierungswahn
Das Produkt, dessen Titel auch für einen Mond (klar!) des Planeten Jupiter steht, bleibt oft angenehm geerdet. „I walk with my dog, I whistle with the bird“, versichert Gabriel im Titeltrack, bevor er für „I’m just a part of everything“ ins Falsett abhebt. Ja, der Mann ist noch sehr, sehr gut bei Stimme. So gut, dass man über einige Banalitäten („This Is Home“, „Love Can Heal“) fast hinweghören könnte, zumal „Road To Joy“ noch diesen funky Vibe kultiviert, der ihm stets gut stand. „Playing For Time“ und „So Much“ (samt Klischee vom spät zum Kind mutierenden alt Geborenen) sind leise-feierliche Reflexionen über Erinnerung, Sterblichkeit, Optimierungswahn. „This edition is limited“, weiß Gabriel und besteigt als später, glücklicher Sisyphos den Hügel, den wir alle hochmüssen.
Klar, ein Gabriel sondiert auch die Weltlage. Aus einem Wort wie „Panoptikum“ einen Pop-Hook kreieren kann wohl nur er. „The Court“ prangert das Justiz- (un)wesen an, das „wahrscheinlich ein wesentlicher Bestandteil einer zivilisierten Gesellschaft“ sei. Wahrscheinlich? Schlag nach bei Cicero! Final holt Gabriel die große Humanismus-Keule raus. „Live And Let Live“ samt Soweto-Chor, Martin Luther King und ewigem Regenbogen. Das hätte gut in die späten 80er-Jahre gepasst – aktuell wirkt es ebenso deplatziert wie dringlich, wenn er fordert: „Lay the burden down, lay the weapon down.“ Über Vergebung können halt manche gerade wirklich noch nicht nachdenken. Auf dem Cover hält sich Peter Gabriel den Kopf gleich mit beiden Händen. Weil er zwanzig Jahre über zwölf Stücke in zig Abmischungen nachdenken musste? Der Fluch des autarken Künstlers. Eine Deadline ist oft auch befreiend.