Pere Ubu
„Datapanik In The Year Zero“
Ob das heute noch jemanden interessiert? Hoffentlich! Pere Ubu sind ein wichtiges Bindeglied zwischen der aggressiven Pop-Art von Velvet Underground und dem ambitionierten Post-Punk der späten Siebziger. Den Budenzauber des englischen Punk-Rock hat die 1975 gegründete „Avant-Garage“-Band aus Cleveland weniger gemocht: zu kindisch, modisch und destruktiv.
„Datapanik In The Year Zero“ enthält die ersten fünf Alben, die frühen Singles sowie eine CD mit Raritäten und Unveröffentlichtem. Zum Bespiel die erste Single „30 Seconds Over Tokyo“, in einer Version der Vorgänger Rocket From The Tombs, deren andere Hälfte sich zu den Dead Boys entwickelte.
Pere Ubu waren nie Teil einer Szene oder eines musikalischen Trends, sondern Außenseiter, Käuze und Freaks. Ihre Musik war der Soundtrack zum Niedergang der amerikanischen Stahl-industrie. Oft waren das Hymnen an die eigenen Neurosen, musikalische Beschreibungen von gesellschaftlichen Angstzuständen. Trotz (oder gerade wegen) ihrer deprimierenden Industriemusik wurden die Musiker um Sänger David Thomas in Europa von Anfang an gefeiert. Bands wie Joy Division und Josef K. standen staunend dabei, als der massige Fleischberg hinterm Mikrofon das Publikum mit seinen Gefühlen traktierte: „The girls won’t touch me/ Cos I’ve got a misdirection.“ Die Musik dazu dröhnt wie ein startender Hubschrauber, doch der präzise hämmernde Beat von Scott Krauss hält alles zusammen – bis die Entladung im Refrain losbricht: „Don‘t need a cure, don’t need a cure, don’t need a cure! I need a final solution“, kreischt David Thomas voller Verzweiflung. Das Anfang 1976 entstandene „Final Solution“ ist großartiger, hochneurotischer Noise-Pop. Doch wegen der damaligen Koketterie vieler Punks mit Nazismus wurde das Stück von Pere Ubu jahrelang aus dem Verkehr gezogen.
Auf dem 1978 veröffentlichten Debütalbum „The Modern Dance“ (****1/2) und dem nur sieben Monate später folgenden, noch besseren „Dub Housing“ (*****) finden Rock, Soundcollagen und literarische Texte in immer neuen, unerhörten Kombination zueinander. „Sentimental Journey“ lebt vom Klang zerspringender Gläser und Flaschen und erzeugt so eine Atmosphäre von Verzweiflung, Einsamkeit und Aggression – der ultimative Kehraus. Ohne hochenergetische Rockstücke wie „Navy“ oder das raffiniert tobende „On The Surface“ wäre diese Intensität kaum auszuhalten. „Codex“ treibt die Albträume auf die Spitze: Zu einer Musik, die heult wie der Wind in den Kaminen einer dunklen, menschenleeren Stadt, jammert Thomas unablässig „I think about you all the time“ – und man wird das Gefühl nicht los, dass er gerade jemandem etwas Fürchterliches angetan hat.
Auch „New Picnic Time“ (****) macht in diesem unberechenbar eigenwilligen Sinn weiter. Nicht nur bei „Fabulous Sequel“ muss man an Captain Beefheart und seine Magic Band denken. Ohne Blues und Mundharmonika zwar, aber mit manischen Rock-Rhythmen und Alan Ravenstines unberechenbaren Synthesizern. „The Art Of Walking“ (***1/2) und „Song Of The Bailing Man“ (***) verlieren sich leider etwas zu sehr in einem akademischen und weniger physischen Sound. Mayo Thompson hatte den bodenständigen Tom Hermann an der Gitarre ersetzt. Zuletzt wurde auch der verdiente Drummer Scott Krauss gegen Anton Fier eingetauscht – die Balance stimmte nicht mehr, der Anspruch, Kunst zu machen, wurde übermächtig. Kurz darauf trennten sich Pere Ubu, um ein Jahrzehnt später als Avantgarde-Pop-Band aufzuer-stehen.
Jürgen Ziemer