Patti Smith :: M Train. Erinnerungen
Man kann nur hoffen, dass Patti Smith all ihre Helden: die Sänger, die Dichter und die Künstler, überleben wird, weil niemand so schöne Elegien schreiben kann wie sie. Ihre Konzerte sind Séancen, in denen sie die Geister von Charles Baudelaire, Arthur Rimbaud, William S. Burroughs, Allen Ginsberg, John Coltrane und Kurt Cobain beschwört, in ihren Memoiren, „Just Kids“, setzte sie ihrer Freundschaft zu dem 1989 verstorbenen Fotografen Robert Mapplethorpe ein Denkmal.
Ihr neues Buch, „M Train“, beginnt nun allerdings in der Gegenwart, genauer gesagt in ihrer Wohnung in Greenwich Village/New York, wo sie aus einem Traum erwacht. Patti Smith lebt allein. Alle ihre Lover und Helden sind tot. Sie ist Ende 60. Sie spricht mit ihren Katzen, sie entschuldigt sich bei einem Schnürsenkel, der nass und dreckig geworden ist, weil sie durch eine Pfütze gelaufen ist, sie besucht ihr Lieblingscafé in der Bedford Street und sitzt mit Notizbuch und Stift an ihrem Lieblingstisch.
Sie erinnert sich an Träume und Reisen, an Menschen und Lektüren von Murakami, Ludwig Wittgenstein und von W. G. Sebald, von dem sie die Kunst gelernt hat, Fotografien in ihren Text einzuweben. Bücher sind ihre Tore zur Welt.„Sie durchziehen diese Seiten oft ohne eine Erklärung“, schreibt sie. „Schriftsteller und ihr Schaffen. Schriftsteller und ihre Bücher. Ich kann nicht voraussetzen, dass der Leser sie alle kennt, aber kennt der Leser denn mich? Und will er das überhaupt? Ich kann es nur hoffen, während ich ihm meine Welt auf einem Tablett voller Anspielungen darbiete.“
Doch es sind nicht nur die Dichter, die sie faszinieren, es sind auch die Detektive aus den skandinavischen, britischen und amerikanischen Krimiserien: „Die Dichter von gestern sind die Detektive von heute. Sie erschnüffeln die hundertste Zeile, lösen einen Fall und hinken erschöpft in den Sonnenuntergang. Sie unterhalten mich und geben mir Kraft. Linden und Holder. Goren und Eames. Horatio Caine. Ich begleite sie, übernehme ihre Gewohnheiten, durchleide ihre Misserfolge und denke über ihre Schritte nach, lange nachdem eine Folge vorbei ist, ob im Original oder als Wiederholung.“ Patti Smith ist selbst Detektiv, sucht die in all den Jahren verlorenen Menschen und Dinge, folgt den Spuren, die die Vergangenheit in ihrem Kopf und ihrer Umgebung hinterlassen hat.
„M Train“ ist ein großes Prosagedicht, ein Bericht aus dem Innern, ein Glaubensbekenntnis, ein Fahrtenbuch der Erinnerung, voller Humor und Selbstironie, heiliger Orte und spiritueller Begegnungen. So erinnert Smith sich, wie sie mit ihrem späteren Mann, dem 1994 verstorbenen MC5-Gitarristen Fred „Sonic“ Smith, Ende der Siebziger nach Saint-Laurent-duMaroni in Französisch-Guayana reiste, um Steine und Erde zu sammeln und sie dem maladen Dichter Jean Genet nach Paris zu bringen, der den Boden der Strafkolonie in Südamerika in seinem „Tagebuch eines Diebes“ als „heilig“ bezeichnet hatte. Eine kurze Episode nur, die aber Smiths poetischen Zugang zur Welt offenbart.
Ein Stuhl in ihrem Apartment, auf dem früher ihr Vater saß, erinnert sie an den Stuhl, auf dem Roberto Bolaño gesessen hat, als er an seinem Meisterwerk „2666“ schrieb, ihre Gedanken wandern weiter zu einer wissenschaftlichen Geheimgesellschaft, der sie angehört, dem Continental Drift Club, der sich um das Andenken des Polarforschers Alfred Wegener verdient macht und tatsächlich aus einem Bolaño-Werk stammen könnte. Ihre Mitgliedschaft führt sie nach Reykjavík, wo sie den Tisch anschauen darf, an dem Schachlegende Bobby Fischer 1972 Boris Spasski schlug.
(Sogar ein Treffen mit dem sehr wunderlichen Großmeister wird arrangiert, bei dem Fischer und Smith in Ermanglung von Gesprächsthemen Buddy-Holly-Songs singen.)Ihr Leben als Continental Drifter führt Smith auch nach Berlin, wo sie in ihrem Lieblingscafé am Prenzlauer Berg unter einem Bild von Michail Bulgakow sitzt, und ins Sommerhaus von Friedrich Schiller in Jena. Smith besucht das Heim der Malerin Frida Kahlo in Mexiko-Stadt und die Gräber des Regisseurs Akira Kurosawa und der Schriftsteller Osamu Dazai und Ryunosuke Akutagawa in Tokio, erinnert sich an die letzten Ruhestätten von Sylvia Plath und Arthur Rimbaud und ihr Treffen mit Paul Bowles in Tanger und kauft gegen den Ratschlag ihres Anwalts einen verfallenen Bungalow am Strand von Rockaway, über den kurze Zeit später der Hurrikan Sandy hinwegfegt.
Das Herz dieses wundervoll mäandernden Textes sind jedoch Smiths Erinnerungen an die Zeit, die sie mit der Liebe ihres Lebens, Fred Smith, verbrachte. „Was ich berührte, war lebendig“, schreibt sie. „Die Finger meines Mannes, ein Löwenzahn, ein aufgeschürftes Knie. Ich musste diese Augenblicke nicht festhalten. Sie verstrichen ohne ein bleibendes Souvenir. Heute überquere ich das Meer mit dem Ziel, in einem einzigen Bild den Strohhut von Robert Graves einzufangen, die Schreibmaschine von Hesse, die Brille von Beckett, das Krankenbett von Keats. Was ich verloren habe und nicht mehr finde, ist in meiner Erinnerung. Was ich nicht sehen kann, versuche ich mir wachzurufen. Ich folge einer Kette von Impulsen, die an Erleuchtung grenzen.“
Am Ende schließt ihr Lieblingscafé an der Bedford Street. Smith nimmt Lieblingstisch und -stuhl mit heim, um sie aus dem Tal der verlorenen Dinge zu retten. Sie sei nun älter als ihr Liebster und all ihre verstorbenen Freunde, schreibt sie verwundert, vielleicht müsse die New York Public Library ihr irgendwann den Gehstock von Virginia Woolf überlassen. Sie würde ihn sicher in Ehren halten – „aber ich würde auch weiterleben und mich weigern, meinen Stift abzugeben.“ (Kiepenheuer & Witsch, 19,99 Euro)