Nirvana
Unplugged in New York
Universal
Kurt Cobain ist nicht für unsere Sünden gestorben, sondern weil er den Schmerz nicht ertragen konnte.
Aus ROLLING STONE 12/1994:
Der Verramschung auf dem Grabbeltisch des Totenkults ist Kurt Cobain entkommen. Wenigstens das blieb ihm erspart, dem im Leben alles ans Herz griff. Kein Teenager trägt Kurt-Gedenk-T-Shirts, keine Firma macht den erhofften Reibach mit der Vermarktung seines Todes. Cobain gab eben keine schöne Leiche ab: Eine Schrotflinte ist ein ganz unromantisches Henkerswerkzeug. Wracks waren am Ende auch Joplin, Hendrix, Morrison, die Heilige Dreifaltigkeit der Mythenbildung. Nur folgte ihr Sterben keinem Willen, und damals funktionierte auch noch die Verklärungsmaschinerie mit der dummen Lüge „Sex & Drugs & Rock’n’Roll“. Die Grunge-Neunziger brauchen keinen Trost mehr: Kill your idols, wenn sie sich erschießen. Ist irgendwie uncool.
Man müßte überprüfen, wer denn wirklich „Nevermind“ gekauft und gehört hat. Um Cobain trauern ja nicht die Jugendlichen und nicht die Dreißigjährigen. Um ihn trauern präzise jene Beobachtungsobjekte der Vulgär-Soziologie, die als „Twenty-somethings“ und „Generation X“ herhalten müssen. Im Fernsehen darf sich die altkluge Milka-Kuh Franziska van Almsick amüsiert darüber verbreiten, wie sie „im zweiten Moment“ furchtbar über Cobains Suizid lachen musste. Sie steht mehr auf Axl Rose. Der bringt sich bestimmt nie um.
Die meisten Musiker finden Cobains Entscheidung falsch; die wenigsten begreifen sie. Michael Stipe, Neil Young und Thurston Moore konnten nicht mehr helfen. Sie schreiben jetzt Lieder darüber: Zwar sind Youngs „Sleeps With Angels“ und Stipes „Let Me In“ bewegende Requiems – die Worte aber wurden dem Schweigen abgerungen. „He’s always on someone’s mind.“
Auch die Firma Geffen dachte nochmal an Cobain, der im Frühjahr unbedingt seine Tournee weiterführen sollte. Daß es im Musikgewerbe auch Deadlines gibt, die nur einmal überschritten werden, überraschte viele wichtige Persönlichkeiten, die noch auf das „neue Produkt“ warteten. Als „MTV Unplugged In New York“ erscheint nun einigermaßen lieblos, nach absurdem Gewurschtel und Gezänk, ein Mitschnitt des wunderbaren Nirvana-Konzerts in der Ehrlich-und-handgemacht-Serie.
Hier hört man zum letztenmal, was Cobain konnte und wollte. Unabweisbar artikuliert sich ein frühvollendeter Songschreiber, der sich alles einverleibt und mit strengem Stilwillen wieder ausgestoßen hat. Die Auswahl von Bowies „The Man Who Sold The World“, Leadbellys „Where Did You Sleep Tonight“ und „Lake Of Fire“ von den Meat Puppets ist natürlich programmatisch und begrenzt Cobains Referenz-System. Über lange Passagen klingt die Band nicht wie Nirvana, wie wir sie von MTV kennen. Ausgerechnet auf MTV. Das Konzert weist Kurt Cobain als Historiker und Traditionalisten aus, der sich nur noch mit „Come As You Are“, „On A Plain“ und „Polly“ auf die unfaßliche Wende seiner eigenen Geschichte bezieht. „All Apologies“, der letzte Song von „In Utero“, steht auch hier am Ende. „What eise should I say?“
Kurt Cobain ist nicht für unsere Sünden gestorben, sondern weil er den Schmerz nicht ertragen konnte. Auf Erden war ihm nicht zu helfen. Sein Tod ist ein Fanal für alle, denen es nicht egal ist, wie und weshalb sie leben.