Nirvana
Nevermind (Anniversary Edition)
Universal
Deluxe-Edition und Schmuck-Karton zum 20. Jahrestag
Wir hatten immer nur die alten Schnurren über Keef und Mick und John und Paul und Iggy und Bowie und wie sie alle hießen. Mit leicht belehrendem Unterton vorgetragen von älteren Brüdern, deren Freunden oder – das Schlimmste! – den eigenen Eltern. Doch wir sollten unsere eigene Band kriegen! Vermutlich weiß jeder, der heute zwischen, sagen wir: 34 und 42 ist, noch ganz genau, wo er zum ersten Mal dieses Video mit den Cheerleadern, dem Wischmob-schwingenden Hausmeister und dem zornigen jungen Mann mit den strähnigen blonden Haaren gesehen hat. Bei mir war es die örtliche Saturn-Filiale.
20 Jahre ist das her, man mag es kaum glauben. Hier nun also die wichtigste Platte der 90er-Jahre. Die Michael Jackson vom Thron gestoßen, dem Hair-Metal den Garaus gemacht, auf alle Zeiten die zuvor hermetisch abgeriegelte Grenze zwischen „oben“ und „unten“ gesprengt hat etc. pp.
Wir müssen damit aufhören!
Natürlich wird man „Nevermind“ nie ganz vom Mythos entkoppeln können. Aber gute Popmusik beweist ihre Zeitlosigkeit vor allem dadurch, dass sie auch ohne den Zeitgeist, aus dem sie geboren wurde, „funktioniert“.
Funktioniert „Nevermind“? Öffnet man 20 Jahre später die opulent gestaltete Jubiläumsauflage mit vier CDs, einer DVD sowie Bildband und Poster, fällt auf: Besonders oft aufgelegt hat man die Platte in den vergangenen Jahren nicht mehr. Trotzdem kann man immer noch auf Anhieb jeden Song mitsingen.
Das Original-Album ist makellos. Überstrahlt die Realität. Steht für eine Idee. Ist nach allen Entwicklungen der vergangenen Jahre wohl tatsächlich das letzte seiner Art – universell gültige Musik für die Ewigkeit.
Umso fragwürdiger diese Edition. Die sicher gut gemeinten Beigaben sind vor allem für Leute interessant, die immer alles ganz genau wissen müssen und zudem die banale Tatsache tröstlich finden, dass auch Kurt Cobain oder Dave Grohl „ganz normale Menschen aus Fleisch und Blut“ waren bzw. sind – und Nirvana die schrecklich klingenden Frühversionen ihrer späteren Welthits „Smells Like Teen Spirit“ und „Come As You Are“ wie abertausend andere Amateurbands auf dem Ghettoblaster aufnahmen.
Denn wer tatsächlich den Wahnsinn auf sich nimmt, in zermürbenden Stunden die sogenannten Smart Studio Sessions, die bislang unveröffentlichten Devonshire Mixes, sämtliche B-Seiten sowie unzählige Live-Aufnahmen in Ton und Bild über sich ergehen zu lassen, gewinnt vor allem eine Erkenntnis: Es steckt wahnsinnig viel Arbeit in dieser Platte. Aber will man das wissen? Dass den frühen Aufnahmen mit Original-Schlagzeuger Chad Channings, dem bemitleidenswertesten Menschen der Musik-Geschichte, der Punch fehlte, ist eh klar. Ebenso konnte man die Genese vieler Cobain-Ideen vom Ruppigen ins Strahlende schon gut auf der vor einigen Jahren erschienenen Box „With The Lights Out“ verfolgen.
Von geringfügigen Unterschieden abgesehen, bleibt der Umstand, dass wir hier immer wieder dieselben Songs in verschiedenen Mixen hören, an den Arrangements hat sich meist nicht mehr viel geändert. All diesen Versionen ist eines gemeinsam: Ihnen fehlt jenes letzte Veredelungsmoment, ohne das Nirvana es wohl nicht über den Status einer guten Underground-Band hinausgebracht hätten. Es sollte also bitte nie wieder jemand behaupten, Produzenten seien im Pop überbewertet.