Massive Attack – Heligoland
Massive Attack ähneln einem alten Ozeanriesen. Ein majestätischer, mit ein paar Schrammen versehener Dampfer, der seit zwölf Jahren Kurs hält und dabei nur selten ins Schlingern gerät. Auf der Brücke steht Kapitän Robert Del Naja, ein knurriger Bursche, der sich heute nur noch selten 3D nennt. Das letzte Massive Attack-Album „100th Window“ hat Del Naja vor sieben Jahren als eine Art Soloalbum produziert – nun ist Grant Marshall alias Daddy G. wieder mit dabei. Gut so, denn die gemeinsamen Wurzeln reichen zurück bis zum DJ-Kollektiv The Wild Bunch, dass man nicht nur für seinen Stil, sondern auch für seine konsequente Haltung preisen muss: HipHop, Reggae und Punk wurden als musikalische Sprache der Underdogs verstanden.
Das kann man auf „Heligoland“ noch hören. So bei sich selbst waren Massive Attack jedenfalls schon lange nicht mehr – und dennoch gibt es viel Neues zu entdecken. Das herausragende „Girl I Love You“, zum Beispiel, gesungen von Horace Andy: Wenn die Band so etwas wie einen festen Sänger hat, dann ist es der 58-jährige Reggae-Veteran. Seine Falsett-Stimme wird hier von einem gefährlich tiefen Bass-Flattern unterlegt, die Eruptionen, die daraus immer wieder emporsteigen, erinnern an freien Jazz oder Neue Musik. Auch auf dem bereits im Rahmen der gleichnamigen EP veröffentlichten (und viel gemütlicheren) „Splitting The Atom“ ist Andy zu hören. Neben den Brummlern Marshall und Del Naja. Da wird schnell klar, warum Massive Attack hauptsächlich mit Gastsängern arbeiten.
TV On The Radios Tunde Adebimpe sorgt für einen sanft gehauchten Einstieg in das Album, beim zunächst lose dahin treibenden, sich dann aber immer mehr findenden „Pray For Rain“. Das von Guy Garvey (Elbow) gesungene „Flat Of The Blade“ erinnert ein wenig an die ätherisch tastenden Stücke von David Sylvian, ist allerdings kraftvoller, bestimmter. Herrlich müde und verlockend lasziv wie meist: Hope Sandoval. Bass und Beats tanzen in „Paradise Circus“ um ihre Stimme, sicher der sinnlichste und dabei melancholischste Track von „Heligoland“. Martina Topley-Birds Gesang auf „Psyche“ ist deutlich fordernder, die von einem Gitarren-Loop getriebene Musik besitzt dazu etwas Serielles. Der Klang und die Techniken zeitgenössischer, klassischer Musik scheinen bei der Entstehung des Albums ohnehin eine wichtige Rolle gespielt zu haben. Das von Damon Albarn intonierte „Saturday Come Slow“ dagegen ist eine melancholische Endzeit-Pop-Ballade, an der auch Adrian Utley von Portishead mitgewirkt hat.
Das stolze Festhalten an ihrer pessimistischen Weltsicht macht Massive Attack so besonders. Die Melancholie und der Ernst der Band speisen sich aus der Ahnung, dass es ein Glück, das alle Menschen einbezieht, niemals geben wird. Doch der Käpt’n, seine rechte Hand und die Stimm-Matrosen geben die Hoffung nicht auf. Wie der Fliegende Holländer kreuzen Massive Attack deshalb weiter durch die Untiefen des Pop, der immer mehr zum Sinnbild einer maßlosen und gierigen Gesellschaft gerät. Mit „Heligoland“ setzen sie dem eins der schönsten Blues-Alben der letzten Jahre entgegen. Weil sie dem Schmerz eine Schönheit abtrotzen, die man nicht als Style, Flavor oder Trend diskreditieren kann. (EMI)
Jürgen Ziemer