Martin Amis :: Interessengebiet
Kein deutscher Verlag traute sich den neuen Roman von Martin Amis zu veröffentlichen. Warum eigentlich?
Ein Provokateur ist Martin Amis bereits seit seinem ersten Roman, „Das Rachel-Tagebuch“ von 1973. Immer gab es zu viel Sex, zu viel Eitelkeit, zu viel Egoismus und zu viele unmoralische Handlungen in seinen Büchern. Aber wenn man seinen Memoiren glauben darf, sind das alles Alltagsbeobachtungen aus dem Leben eines Mannes, der einfach so viel talentierter, feinfühliger, reicher, selbstbewusster und klüger ist als die meisten seiner Zeitgenossen. Der Brite gehört definitiv in die von David Foster Wallace aufgestellte Kategorie der great male narcissists, ist im weitesten Sinne das, was eine Freundin des US-Autors im Hinblick auf John Updike einen „Schwanz mit Wörterbuch“ nannte. Und der stand immer wie eine Eins. So war er sich auch nie zu schade, mit einer geschliffenen Formulierung Öl ins Feuer öffentlicher Debatten zu gießen, die gesamte muslimische Gemeinde für den Islamismus haftbar zu machen oder das Aufstellen von Euthanasiehäuschen zu fordern, um den „silbernen Tsunami“ der Überalterung zu stoppen und die Ergrauten „mit einem Martini und einem Orden“ aus dem britischen ins himmlische Königreich zu verabschieden.
Sein jüngster Roman, „The Zone Of Interest“, löste in seiner Heimat zur Abwechslung mal keinen Skandal, sondern Begeisterung aus, wurde nach vielen mediokren Werken als Rückkehr eines großen Autors gefeiert. Bei seinen Verlagen in Deutschland und Frankreich stieß der Roman allerdings auf weniger Gegenliebe, beide sahen von einer Veröffentlichung ab, weil ihnen angeblich das Thema nicht behagte. Der Provokateur Amis schreibt nämlich über den Holocaust. Das hat er zwar bereits 1991 in „Pfeil der Zeit“ getan, in dem er das Leben eines KZ-Arztes vom Sterbebett aus rückwärts bis in den Mutterleib erzählte, doch „The Zone Of Interest“, das nun beim Schweizer Verlag Kein & Aber in der Übersetzung von Werner Schmitz erscheint, dreht sich um Liebe und Sex im Konzentrationslager, um den Einbruch der Normalität in den unvorstellbaren Schrecken also. Taugt das zumindest hierzulande für einen Skandal?
Amis lässt drei Figuren erzählen: Angelus „Golo“ Thomsen, ein Bild von einem Arier, Neffe des Reichsministers Martin Bormann und Aufseher in einem Zweigwerk der Buna-Werke, das Gefangene aus Auschwitz für seine ziemliche ineffektive Produktion von Synthesekautschuk einsetzt; sein Antagonist, Paul Doll, Kommandant des „Kat Zets“ (so die lautmalerische Übertragung des deutschen „KZ“ ins Englische) und starker Alkoholiker; schließlich der polnisch-jüdische Häftling Szmul Zacharias, Mitglied eines Sonderkommandos zur Beseitigung von Leichen. Thomsen, ein rechter Schürzenjäger, verkehrt unter anderem mit der sadistischen Aufseherin Ilse Grese, ist aber vor allem von Hannah Doll fasziniert, Frau des Kommandanten und Mutter seiner Zwillingstöchter. Die demütigt ihren Göttergatten, wo sie nur kann, sodass der Mordfantasien hegt und seine Manneskraft bei der Witwe eines Offiziers unter Beweis stellen muss, die, als ihre Roma-Wurzeln bekannt werden, schließlich selbst interniert wird. Thomsen hilft Hannah derweil aus nicht unbedingt altruistischem Antrieb, Informationen über den Verbleib ihres ehemaligen Liebhabers, des kommunistischen Systemfeinds Dieter Krüger, zu beschaffen.
Amis bettet diese erotische Farce in den grausamen Alltag des „Interessengebiets“: die ankommenden Transporte, die Selektionen, die Gaskammern, Theater- und Kinobesuche, Hinrichtungen und Geburtstage, den Gestank von Verwesung und die Leichensäfte im Trinkwasser. Selbst die reinste Liebe, jede Form von Sex sowieso und somit auch die Fortpflanzung, so scheint Amis zwischen den Zeilen zu sagen, ist angesichts der Schrecken des Holocaust eine Obszönität. Er zwingt seine Leser in die Sichtweise von Täter, Opfer und Widerständler. Alle versuchen in dieser Hölle eine Art von Normalität zu leben, und genau das macht sie zugleich schuldig. Am eindeutigsten ist das bei dem von Amis mit großem Sarkasmus gezeichneten aufgeblasenen Apparatschik Doll, dem die privaten Probleme ebenso über den Kopf wachsen wie die Leichenberge. Für ihn ist der Holocaust vor allem ein logistisches Problem. Für Szmul ist er ein existenzielles und moralisches zugleich: Der Häftling muss mit seinen Mördern kollaborieren, um sein eigenes Leben zu verlängern, und kann diesen Teufelspakt einzig mit der Hoffnung vor sich selbst rechtfertigen, eines Tages Zeugnis von den Gräueltaten der Nazis ablegen zu können. Auch Thomsen ist ein Rad im Getriebe, das er zugleich zu sabotieren versucht. „Wenn man in Zukunft auf die Nationalsozialisten zurückblickt, wird man sie für so fremdartig und unwahrscheinlich halten wie die prähistorischen Fleischfresser“, schreibt er an Hannah. „Nicht menschlich. Nicht einmal Säugetiere. Säugetiere haben warmes Blut und lebendige Junge.“
Hier scheint der Autor selbst aus Thomsen zu sprechen, denn Amis gibt sich in „Interessengebiet“ keineswegs als Provokateur, sondern versucht, die eigene Ohnmacht angesichts des Schreckens zu überwinden, das Unfassbare mit seinen Mitteln fassbar zu machen. Im informativen Nachwort, dem er nach Paul Celan den lakonischen Titel „Das, was geschah“ gab, erläutert er seine Obsession für den Holocaust und zeichnet seine lange Suche nach einer Erklärung für das scheinbar Unerklärbare nach.
„Interessengebiet“ ist ein kluger, manchmal auch komischer Text, der gerade dadurch, dass er an den richtigen Stellen respektlos ist, dem Thema immer mit Respekt begegnet. Man fragt sich, was den Hanser Verlag dazu bewogen haben mag, diesen Roman zum Anlass zu nehmen, sich von seinem Autor Martin Amis zu trennen. Vielleicht wollte man ihn einfach ohne Martini und Orden in die Wüste schicken.