Major Lazer
„Guns Don’t Kill People…Lazers Do“
Was zu diesem Album gar nicht geht: Rotwein dekantieren, den Wirtschaftsteil der „FAZ“ lesen, entspannt joggen. Was man sich schon eher vorstellen könnte: In den Banlieues von Paris ein paar Autos abfackeln oder auf einer Favela-Party gutgelaunt in den Nachthimmel ballern. Weil: Der Teufel hat wieder mal die besten Lieder. Früher hat er Rock’n’Roll gehört, heute ist es eine völlig überdrehte Version von Dancehall-Reggae. Nein, eben nicht dieser Schunkelkram, der jetzt wieder auf Sommerpartys und Stadtteilfesten läuft. Es ist eher das, was man tatsächlich in Jamaika hört, nur smarter, innovativer und außergewöhnlicher.
Major Lazer ist ein Kunstgeschöpf, erdacht von den Produzenten Diplo und Switch, die Tüftler hinter M.I.A., Santigold und Bonde Do Role. Das Grammy-nominierte Duo aus USA und GB hat dem virtuellen Major zunächst in Jamaika ein Hauptquartier in den Tuff Gong Studios eingerichtet. Dann rekrutierte man ein gutes Dutzend Dancehall-Vokalisten: Unter anderen VYBZ Kartel, Ms Thing, Mr. Vegas, Mr. Lex, auch die reizende Santigold ist mit von der Partie. Einige Stücke entsprechen den üblichen Klischees des Genres, also hoher Wortanteil und so albern naive Texte wie bei „Mary Jane“, einem musikalisch dafür recht gelungenen Loblied auf die alte Dame unter den Drogen.
Das mit einem ultraschnellen Punk-Basslauf startende „Lazer Theme“ klappt einem sofort den Kiefer nach unten: Der Rapper Future Trouble klingt genau so, wie er heißt. Diese Musik ist wild, vital und grundsätzlich unzufrieden. Sie ist nicht moralisch, nicht wohldurchdacht und hat auch nur wenig gemein mit der Kinderfängerei und den Wrestling-Attitüden des amerikanischen Gangsta-Rap.
„Anything Goes“ ist atemberaubend in seinem klanglichen Avantgardismus: Shigeru Umebayshis Leitthema aus dem Film „2046“ bildet das passende Intro- schwer, schwül, schwelgend. Der Rapper Turbulence fordert mit schneidender Stimme: „No mercy for the merciless!“, und die Musik wird zu einer genialischen Bass-Welle, ein extrem tiefes Grollen. Dazwischen rattern Schüsse, dröhnen Explosionen, bauen sich Leidenschaften auf, klingeln die Sounddetails.
Die Ästhetik dieser Musik ist eine Ästhetik der globalen Krisengebiete und Problem-Viertel, verstärkt und zugespitzt durch die Produktionstalente von Diplo und Switch. Gewalt ist in jedem Stück so präsent wie im Alltag von Kingston oder Rio. Pädagogen mögen das bedauern, Moralisten anprangern. Aber eine bessere, aktuellere, lebendigere Form von „Weltmusik“ findet man nur schwer. (Downtown/Cooperative)
Jürgen Ziemer